Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Welt am Sonntag, 18.4.2021

Die schweigende Minderheit

Von Steffen Fründt

Zu schüchtern für die Konferenz? Introvertierte Menschen sind im Berufsleben oft benachteiligt. Zurückhaltung wird als Schwäche ausgelegt. Doch Firmen, die Wert auf Diversität legen tun gut daran, auch die Schüchternen zu fördern.

Der Moment seiner Bloßstellung ist mehr als ein halbes Leben her, doch für Mike Dieser unvergessen. Er war 15 Jahre alt, ein eher in sich gekehrter Typ, aber ein Ass am Klavier. So gut, dass ihn seine Klavierlehrerin immer wieder zu einem öffentlichen Auftritt drängte, erinnert er sich. Vermutlich wollte sie ihm damit einen Gefallen tun. Doch es geriet zum Fiasko. Am großen Tag saßen 200 Menschen erwartungsvoll in einem Veranstaltungssaal in Mannheim und freuten sich auf das Feuerwerk von Debussy, wie er erzählt. "Ich konnte das Stück perfekt. Doch auf der Bühne, vor all den Leuten, war da nur noch Panik." Dreimal musste Mike Dieser abbrechen, wusste nicht mehr weiter. Als er das Konzert schließlich irgendwie über die Bühne gebracht hatte, trat er geschlagen und voller Scham ab.

Heute ist Dieser 50 Jahre alt, verheirateter Vater zweier Kinder und in einer Führungsposition für ein Pharma-Dienstleistungsunternehmen tätig. Doch in bestimmten Situationen beschleicht ihn immer noch ein Gefühl wie damals bei Debussy. Im Meeting, bei einer Präsentation vor Kunden, beim vermeintlich zwanglosen Beisammensein an der Kaffeemaschine. "Auch wenn ich mich fachlich sehr gut auskenne und etwas zu sagen hätte, fällt es mir manchmal noch immer schwer, einen Ton herauszubringen", sagt Dieser. Er habe mit ansehen müssen, wie Kollegen und Vorgesetzte die Früchte seiner Arbeit vor versammelter Runde als die ihren verkauften, und habe nichts gesagt. In Mike Diesers Leben klafft seit jeher ein breiter Graben zwischen dem, was er kann, und dem, was er darstellt. Doch heute kommt er damit klar. Und kann dem sogar Gutes abgewinnen. "Ich bin introvertiert. Heute bin ich stolz drauf", sagt er.

Die Menschen sind verschieden. Geschlecht, Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung - diese Vielfalt in der Mitarbeiterschaft abzubilden gehört zu den Grundsätzen vieler Unternehmen. Doch was beim Bemühen um Diversität und Inklusion bislang kaum Beachtung findet, ist ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal: die Persönlichkeit. Menschen können mutig und mitreißend sein, andere nachdenklich und gewissenhaft. All das sagt erst mal wenig über fachliche Qualifikation und Eignung zur Führung aus. Und kann dennoch über eine glänzende Karriere oder chronischen Misserfolg entscheiden. Während die Extrovertierten im Meeting schillern und strahlen, stoßen die Schüchternen und Introvertierten an eine Mauer des Schweigens - ihres eigenen.

Katja Riedel ist Molekularbiologin und in verantwortlicher Position für ein südhessisches Biotech-Unternehmen tätig. Meetings, Seminare, Konferenzen gehören zu ihrem Berufsalltag. Leider. Denn sie bedeuten für die 39-Jährige eine riesige Herausforderung. Schon die obligatorische Vorstellungsrunde kann bei ihr Stresssymptome auslösen, erzählt sie. Die Handflächen werden feucht, das Herz klopft zum Hals, die Stimme wird zittrig. "Wo andere munter über ihren Lebensweg plaudern, will ich es einfach nur schnell hinter mich bringen", beschreibt Riedel diesen Mechanismus der verpassten Chancen.

Auf Tagungen, wenn nach den Vorträgen beim Bier die Stunde der Netzwerker schlägt und wichtige Kontakte geknüpft werden, hat sie sich oft erschöpft vom kommunikativen Overkill in aller Stille aufs Hotelzimmer verzogen. Das tut sie heute nicht mehr. "Als Naturwissenschaftlerin konnte ich mich auf meine fachliche Kompetenz verlassen", sagt sie. Doch je höher sie aufstieg, desto wichtiger wurden die sozialen Fähigkeiten. Riedel erkannte, dass sie sich ihrer Persönlichkeit und ihren Ängsten stellen musste. Sie fand Unterstützung.

Simone Rechel aus Bensheim bei Darmstadt braucht nur einen Satz, um ihr Geschäftsmodell zu umreißen: "Ich coache Introvertierte." Seit fünf Jahren arbeitet die 35-Jährige mit Katja Riedel und anderen Klienten an Wegen und Techniken, wie sie trotz ihrer introvertierten Veranlagung ihre Interessen besser durchsetzen. Die meisten ihrer Kunden seien Männer, sagt Rechel, was aber auch daran liegen könne, dass Introversion und Schüchternheit bei Frauen nach klassischen Rollenbildern akzeptierter, mitunter gar gewünscht seien, während sie bei Männern oft als Schwäche gesehen würden. Trotz großer Vorbilder wie Bill Gates, Jeff Bezos oder Marc Zuckerberg - allesamt angeblich introvertierte Persönlichkeiten. Je nach Definition, so sagt Rechel, gelten 20 bis 30 Prozent der Menschen als introvertiert. "Allein das müsste für Arbeitgeber Grund genug sein, sich mit der Thematik zu befassen."

Bislang ist das Thema Introvertiert in den Personalentwicklungsabteilungen des Landes kein großes Thema. Dabei, so zeigen erste Untersuchungen, birgt die schweigende Minderheit für Unternehmen ein erhebliches Potenzial.

Wie groß der Vorteil einer vielfältigen Unternehmenskultur ist, hat das Beratungsunternehmen Flakinsel sogar messen können. Unternehmen, deren Teams bis in die Chefetagen hinauf überdurchschnittlich divers aufgestellt sind, übertrafen in einer Studie mit einer um 25 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit ihre direkten Wettbewerber in der Geschäftsentwicklung. Weil sie einen breiteren Talentpool nutzen, auf das Wissen von Menschen verschiedenster Erfahrungshintergründe zurückgreifen, durch eine inklusive Kultur ihre Mitarbeiter besser mitnehmen und motivieren und am Ende zu robusteren Entscheidungen kommen, so die Analyse von McKinsey-Partnerin Julia Sperling-Magro, Die Bideutung wen Introversion wurde lange unterschätzt. Sie wird oft fälschlich gleichgesetzt mit Passivität oder mangelnder Motivation", beobachtet die Neurowissenschaftlerin.

Dabei könne die unterschiedliche Art, über Themen nachzudenken, für Unternehmen von großen Nutzen sein. Bei McKinsey selbst, so berichtet Sperling-Magro, würden Aussagen, aus denen Persönlichkeitspräferenzen sprechen, inzwischen grundsätzlich hinterfragt. "Dass jemand den Augenkontakt scheut oder 'irgendwie keine Gravitas' besitzt, ist keine Aussage über seine oder ihre Arbeitsleistung", sagt sie. Gerade in modernen Arbeitsstrukturen mit flachen Hierarchien seien mitunter Führungspersönlichkeiten erfolgreicher, die kein Problem damit haben, auch andere glänzen zu lassen. "Studien zeigen, dass gerade Introvertierte hervorragend geeignet sein können, ein Team von Extrovertierten zu führen."

Doch in der gelebten Realität auf Deutschlands Bürofluren haben die Zaghaften es oft schwer. "Wer einen Experten anspricht, kriegt in der Regel eine direkte Reaktion. Introvertierte denken dagegen gern erst mal nach. Dabei entstehen Pausen", erklärt es Coach Rechel. Wenn sie nach einigen Augenblicken oder auch erst nach drei Tagen dann die von allen Seiten durchdachte Lösung parat haben, hört sie keiner mehr. Die Ursache des Missverhältnisses liegt Rechel zufolge in einer unterschiedlichen Grundmotivation. Extrovertierte treibe eher die Aussicht auf Erfolg, Geld, Macht an. "Intros" strebten hingegen eher nach Sicherheit. "Man gilt da schnell als Bremser und Bedenkenträger", berichtet Klientin Riedel, die sich nach ihrem Aufstieg nun bemüht, den Stillen in ihrem Unternehmen mehr Gehör zu verschaffen. "Sie wollen einfach erst mal verstehen. Dann ziehen sie auch mit."

Julian Kurzidim ist ein mutiger Mann. Er muss es sein, an jedem Tag seines Lebens. Auch jetzt, als er im Braunschweiger Inselwallpark eine etwas abseits stehende Bank mit Blick aufs Wasser für das Interview ansteuert, verlangt ihm das spürbar viel Willenskraft ab. Der 45-Jährige setzt zu einem Satz an, bricht ab, macht einen neuen Anlauf, verstummt wieder. Kurzidim ringt mit Wörtern. Und dann, nach einer zermürbenden Stunde, sagt er diesen wundervollen Satz über sich selbst: "Man muss mich etwas länger kennenlernen."

Kurzidim macht sich stark. Für Menschen wie sich selbst, denen es von Natur aus unendlich schwer fällt, für ihre Interessen einzutreten. Er macht sich stark für Menschen mit einer charakterlichen Eigenschaft, die von Introvertiert abzugrenzen ist: Schüchternheit. Kurzidim betreibt die Website schlechterdings und ist Gründer und Vorsitzender von intakt, einem Dachverband von Selbsthilfegruppen für Menschen mit sozialen Ängsten. Sich selbst bezeichnet er als soziophob. Diagnoseschlüssel F40.1 Er hat, nichts anderes bedeutet das, Angst vor Menschen.

"Es ist wie eine Mauer", sagt er. Im Kindergarten war sie noch kaum zu erkennen. Er interessierte sich halt mehr für Bauklötze als für andere Kinder. Doch dann türmte sich die Mauer zwischen ihm und der Welt immer höher. In der Schule wurde er als anders wahrgenommen und gemobbt, erzählt er. Jede Hänselei ein weiterer Stein in der Mauer. Nach Abschluss seines FH-Studiums der Sozialarbeit sah er sich nicht mehr in der Lage, den erwählten Beruf auszuüben, eine Stelle in einer betreuten Wohnanlage für psychisch Kranke verlor er noch in der Probezeit. Die wenigen Bewerbungsgespräche, die er seither hatte, verliefen nicht gut. Heute arbeitet Kurzidim als Zeitungsausträger, um vier Uhr in der Früh, wenn er keinem Menschen begegnet. "Das ist weit unter meinen intellektuellen Möglichkeiten", sagt Kurzidim, wieder so ein lakonischer Satz, der wie ein Lichtstrahl durch die Mauer des Schweigens strahlt.

Leute wie er, sagt Kurzidim, könnten für Unternehmen wertvoll sein. Andere Erfahrungen führten zu anderen Ideen und vielleicht zu neuen Produkten und Geschäftsfeldern. "Die Gefahr ist nur, dass das hinter dem Anderssein nicht mehr wahrgenommen wird."
In einer rosa getünchten Stadtvilla in Berlin-Lichterfelde hockt ein Mann auf dem Dielenboden und legt mit einem blauen Wollfaden einen Kreis um sich. Susanne Hake nähert sich ihrem Patienten mit einer vorgehaltenen Nackenrolle, die eine Grenzverletzung symbolisieren soll. "Dies ist eine Bedrohung", sagt sie. "Was tun Sie?"

Hake hilft introvertierten und schüchternen Menschen mit teilweise ungewöhnlichen Methoden dabei, innere Bremsen zu lösen. Mit lösungsorientiertemCoaching, Atemübungen und manchmal auch durch Osteopathie. Sie ist Autorin des Buchs "Selbstmarketing für Schüchterne" und arbeitet nach einem bewegten Leben in der Werbe- und Filmbranche seit elf Jahren als Osteopathin und Integrative Körperpsychotherapeutin in Berlin. Nicht selten, so sagt sie, erlebten ihre Patienten schon nach drei oder vier Sitzungen eine regelrechte Befreiung. "Es geht darum, die eigenen Stärken auch zu vermitteln. Intelligente Leute sind schüchtern."

Auch Mike. Dieser hat es 35 Jahre nach seinem Debussy-Debakel geschafft, sich von seiner Beklemmung zu befreien. Auf wichtige Kunden-Präsentationen bereitet er sich noch immer mit einem Coach vor. Er hat sich ein paar Tricks erarbeitet. Zum Beispiel macht er sich nach jedem Termin Notizen, um bei einem späteren Treffen einen Anknüpfungspunkt zu haben. "Kollegen und Kunden erleben und schätzen mich so als jemanden, der zuhören kann."

Dieser ist heute in der Lage, seinerseits die "Intros" in seinem Team zu unterstützen. "Wie ist deine Meinung? Ich würde dich dazu gern mit in die Runde nehmen", sagt er und hilft ihnen so aus der Komfortzone. Nicht immer geht das gut. Einmal entschloss sich ein Mitarbeiter trotz Bedenken, zu einer Präsentation mitzukommen, und brachte dann kein Wort heraus, erinnert er sich. Eine Situation, mit der Dieser mitfühlen kann. Doch häufiger hat er Erfolgserlebnisse. Erst neulich, berichtet er, habe er einen bis dato stillen und verschlossenen Kollegen zum Kunden mitgenommen. "Er wuchs über sich hinaus und war kaum noch zu stoppen", sagt Dieser und freut sich darüber selbst fast am meisten. Es ist sein später Triumph über Debussy.

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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26