Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Dezember 2015

Titelseite

Inhalt:
   - Buchpräsentation in Berlin
   - Bilderbuch "Kleiner großer Berg"
   - Weihnachtserlebnisse
   - Film "Alles steht kopf"
   - Würde in der Psychiatrie
   - Backen und Essen, Teil 5
   - Backen und Essen, Teil 6

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ZITAT

"Wer Mut zeigt, macht Mut."

Adolf Kolping, sozial engagierter katholischer Priester (1813-1865)



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Buchpräsentation in Berlin

ZUSAMMENFASSUNG
   - Der intakt e.V. wieder beim psychologischen Kongress
   - Austausch mit Fachpersonal und Aktiven
   - Die Selbsthilfearbeit des intakt e.V. macht Eindruck


Zum zweiten Mal war der intakt e.V. mit dem "ängstlichen Panther" beim Kongreß der DGPPN vertreten. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hatte die meisten Vorjahresteilnehmer wieder eingeladen.
Wie letztes Jahr galt: "Der DGPPN-Kongreß, laut Webseite 'Europas größte Fachtagung im Bereich der psychischen Erkrankungen', füllt eine ganze Messehalle. Das Programmheft hat 300 Seiten. Besucht wurde er von Fachpersonal, z.T. auch Studenten. Es war also viel los."
Der Messeteil war größtenteils reserviert für medizinisches Fachpersonal, der intakt e.V. war aber für den "Büchertisch" eingeladen. Dieser war in diesem Jahr attraktiver als im Vorjahr am Eingang zur Messehalle plaziert. Eigentlich ging er von 12-15 Uhr, man konnte aber freiwillig auch länger bleiben. So war ich von 11.00-16.30 da. Die Flugblattauswahl habe ich kleiner gehalten, die Wollmilchsau war dieses Jahr nicht dabei. Aber natürlich das Ansichtsexemplar des "ängstlichen Panthers".
Während der Veranstaltung wurden 6 Exemplare verkauft. Schon um 12.30 war die Verkaufszahl des Vorjahres (drei) erreicht.
Auf "unserer" Seite des Tisches waren diesmal 10 Teilnehmende (13 waren eingeladen) zu verschiedensten Themen wie Demenz, Schizophrenie, Angehörigenarbeit, Selbstmord, psychische Themen für Kinder; mit verschiedenen Graden der Professionalisierung. Da konnten wir uns gegenseitig mit Tips unterstützen.
Insgesamt zeigte diese Veranstaltung (mal wieder), daß der intakt e.V. ein attraktives Angebot hat, das oft als "sehr mutig" wahrgenommen wird. Danke an die DGPPN, die Interessierten und Beteiligten am Büchertisch!

Julian / Braunschweig


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Selbstwerttraining für die Jüngsten

Das Bilderbuch "Kleiner großer Berg" konnte ich am Büchertisch in Berlin einsehen und auch gleich die Autorin kennenlernen. Sie gibt in ihrem eigenen Verlag mehrere eigene Kinderbücher zu psychologisch-therapeutischen Themen heraus.

Im Gebirge vergleichen sich eine Wiese, ein See und eben der Berg. Der ist traurig, weil er nicht wie die anderen seine Stärken erkennt. Aber er lernt sie und ist am Ende genauso zufrieden wie die anderen. Das Buch ist sehr kurz, vielleicht etwas zu kurz zum Nur-Lesen. Mir ging das Durchlesen zu schnell. Andererseits paßt es damit zum Prinzip japanischer Meditationskunst, alles Unnötige wegzulassen und nur den wahren Kern zu zeigen.
Den wahren Kern trifft es genau: der kleine große Berg kann Menschen mit Selbstwertproblematik ähnlich nahegehen wie der Amelie-Film.
Das Buch ist damit attraktiv für Familien, in denen ein Elternteil sozialängstlich ist und seinem Kind von Anfang an helfen will, es nicht auch zu werden. Und in den Kindergarten paßt es mit dieser Zielsetzung sowieso.

Kleiner großer Berg
Claudia Gliemann (Text), Uwe Mayer (Bilder)
Verlagsempfehlung: 4-6 Jahre, EUR 14,90
Monterosa-Verlag, 2010, ISBN 978-3-94264000-8



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Weihnachts-Erlebnisse von Julian

ZUSAMMENFASSUNG
   - Weihnachtliche Stimmung ist auch ohne Tannenbaum, Geschenke ohne Festessen möglich
   - Ganz kleine Wünsche im Zug und auf dem Rad
   - Und bei einer zufällige Begegnung im Kirchenvorraum


Auch dieses Jahr - wie alle Jahre wieder - werden über-raschend viele Einsame schon einen Platz vor einem Tannenbaum gefunden haben. Wer diese Gelegenheit nicht hat, muß nicht aufgeben. Dafür präsentiere ich drei Heiligabende, drei Erlebnisse, die perfekt zu diesem besonderen Tag paßten. Auch ohne Rentiere oder Geschenke.

2009: In jenem Jahr wollte ich zur Familie nach Gifhorn. Die Verbindung war mit Umsteigen in Wolfsburg, weil kein direkter Zug mehr fuhr. Der Bahnhof war ungewohnt leer, still und dunkel, das war schon was Besonderes. Ich nahm den letzten Zug nach Wolfsburg.
Der Anschlußzug stand dort bereits am Bahnsteig. Doch statt loszufahren, kam eine Ansage: Verspätung wegen Lokschaden. Es war unklar, wann der Zug abfahrfähig sein würde. Nach einer halben Stunde Warten - immerhin im relativ warmen Wagen - fuhr der Zug doch noch, und um 20.15 war auch ich in einem warmen Wohnzimmer mit Tannenbaum.
Es ist zwar seltsam, wenn die Weihnachtsstimmung ausgerechnet von einer kaputten Lok ausgehen soll. Aber das war es nicht. Nur der Anfang, denn das Weihnachtliche war das doch noch gute Ende. So wie bei Maria und Josef, die vor ihrer großen Stunde erst lange nach einem Hotelzimmer gesucht haben.

2010: In der Briefträger-Filiale kam soviel Post an solch einem Tag. Wie lange würde ich damit unterwegs sein? Ich sagte meinem Chef, daß ich den Leuten keine Briefe unter den Tannenbaum legen will, aber zum Glück wollte auch er um 15.00 Schluß machen.
Die Post sortierte ich so, daß ab 13.00 nur noch die wichtigsten Briefe zugestellt wurden, z.B. für Anwälte und Großkunden. Um 14.40 landete der letzte Brief im Kasten. Ich fuhr mit dem Postfahrrad durch die Stadt und hatte nur zwei Wünsche: ein Päckchen Butter und etwas Kleingeld für den Klingelbeutel. Beides war nicht mehr zu erfüllen, da alle Läden schon geschlossen hatten. Doch das Gefühl, nur kleine Wünsche zu haben, war erinnernswert. Der große Wunsch war ja schon erfüllt: endlich arbeitsfrei.
Und es ging auch ohne: Kleingeld hatte ich noch zuhause, außerdem ein Brot, auf dem der Käse auch ohne Butter schmeckte. Also schnell duschen, was essen und ab in die Kirche.

2011: Für eine besondere Weihnachtsaktion bin ich mit dem Zug nach Uelzen gefahren. Dort kam ich um 16.50 an und mußte durch die Innenstadt gehen. In der Hauptkirche lief der Gottesdienst, der Gesang war hörbar. Ich ging in den Vorraum und sah durch die Glastür, daß gerade das Krippenspiel lief.
Im Vorraum war außer mir nur eine Frau. Moment - kenne ich sie? Woher, aus der Gruppe? Ich fragte und erfuhr es: Nicht aus der Gruppe, sondern aus dem Cafe, in dem sich ein Teil der Gruppe vor den Sitzungen trifft. Welch ein Zufall. Gold oder Myrrhe hatten wir aber beide nicht dabei ;-)

Julian / Braunschweig


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"Das ist Brokkoli!"
Emotionen auf Abwegen - alles steht kopf

ZUSAMMENFASSUNG
   - Neuer Trickfilm zur Psychologie
   - Er ist so ungewöhnlich wie unterhaltsam
   - Die "Gehirnsoftware" wird kreativ vorgestellt


Das Vorurteil, daß ein "Comic" immer komisch sein müsse, ist ja schon lange widerlegt. Nun aber wurde ein lustiger Trickfilm zum Psychotainment: "Alles steht kopf".
Zunächst einmal ist es ein Mainstreamfilm mit einer normalen Handlung, d.h. die im letzten Moment doch noch gut ausgeht. Und daß am Ende die Pubertät angedeutet wird, läßt eine Fortsetzung befürchten. Es ist aber bewundernswert, wie gut das Schema eines "normalen" Films mit dem Aufbau der "Gehirnsoftware" kombiniert wurde - und diese als eigene Welt dargestellt wird. Überhaupt, daß jemand auf eine solche Idee gekommen ist!

Der Film hat zwei Handlungsebenen: einmal die Seele eines 11-jährigen Mädchens, andererseits das Mädchen selbst, wie sich das Seelenleben darauf auswirkt und was sie also tut.
Für Psychologie-Interessierte ist natürlich der Seelenteil interessant. Das Filmteam wurde von zwei Psychologen beraten - wobei aber zu bedenken ist, daß Psychologie keine der exakt-objektiven Wissenschaften ist.
Es wird eine Zentrale mit einem großen Schaltpult gezeigt. Viele Knöpfe und Hebel; je älter das Mädchen wird, umso mehr. Die Zentrale ist bevölkert mit fünf Figuren, die wichtige Gefühle repräsentieren. Eigentlich sollten es zwar mehr sein, aber für den Film wurden die wichtigsten genommen:
- Wut, ein roter Feuerkopf
- Angst, ein lila Strichmännchen
- Ekel, eine grüne 'Zicke'
- Freude, eine gelbe Fee
- Kummer, ein dickes blaues Mädchen mit Strickpulli und Außenseiterbrille (→1)
Die fünf empfinden selbst ihr 'eigenes' Gefühl. Aber nicht nur: Freude kann auch ziemlich intrigant sein, wenn es darum geht, die Kummer (→2) vom Schaltpult fernzuhalten.
Neben der Emotionskontrolle haben die fünf auch die Aufgabe, neue Gedanken und Erinnerungen - dargestellt als Murmeln - zu sortieren und per Rohrpost ins Langzeitgedächtnis zu befördern. Die Murmeln haben die selbe Farbe wie die Figur mit dem selben Gefühl. Kummer hat dabei eine besondere Kraft: wenn sie gelbe (=schöne) Murmeln anfaßt, werden sie blau (=traurig).

Freude und Kummer werden versehentlich durch die Rohrpost ins Langzeitgedächtnis gesaugt. Daher müssen Angst, Ekel und Wut allein steuern. JedeR weiß, daß nur mit diesen drei Emotionen kein ausgeglichenes Leben möglich ist.
Freude und Kummer müssen also schnell zurück und kommen dabei durch die ganze Psyche. Welch erklärende Darstellungen: das Gedächtnis als meilenweites Regallabyrinth, Träume als Filmstudio (wo Freude und Kummer einen Alptraum drehen, um das Mädchen aufwachen zu lassen). Das Unterbewußtsein ist das Gefängnis der Horrorgestalten, und grau (=unwichtig) gewordene Erinnerungen werden in den "Abgrund des Vergessens" gekippt. Durch all das muß das ungleiche Paar sich trotz aller Abneigung kämpfen und kommt sich dabei näher (→3). Es zeigt sich, daß traurige Erinnerungen doch wieder schön werden können. Natürlich schaffen es die beiden wieder in die Zentrale - welche kongeniale Hilfe Ekel und Wut dabei leisten, verrate ich hier aber nicht. Das Vertrauen, das Freude am Ende in Kummer hat, zeigt: Ja, auch Kummer ist OK. Das blaue Mädchen am Schaltpult ist ein versöhnliches Bild für Außenseiter.
Der Film ist also uneingeschränkt empfehlenswert. Freude und Kummer dürften längst in so mancher Kinderpsychotherapiepraxis als Stoffpuppen sitzen. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, daß der Vorfilm "Lava" eine traurige Liebesgeschichte ist.

Wann kommt im Film ein Fußballspiel vor, wie geraten Tatsachen und Meinungen durcheinander und was hat das alles mit "Triple-Dent"-Kaugummi zu tun? Schaut euch den Film an.

Julian / Braunschweig

Offizielle Webseiten zum Film sind diese:
http://filme.disney.de/alles-steht-kopf
http://allesstehtkopf.tumblr.com
Ausschnitte sind bei Youtube zu finden, Rezensionen auf vielen Webseiten, z.B. von Zeitungen.

↑1 Ob Außenseiter so gezeigt werden, weil wir sie uns so vorstellen - oder ob wir sie uns so vorstellen, weil sie so gezeigt werden - ist eine wichtige Frage. Die aber das Thema der Filmbesprechung verläßt und daher hier nur genannt wird.

↑2 In der deutschen Grammatik heißt es zwar "der Kummer", hier möchte ich aber bei "die" bleiben, weil Kummer im Film eben ein Mädchen ist.

↑3 Wie hieß nochmal dieser Film, in dem ein weißer und ein schwarzer Häftling aus dem Gefängnis fliehen können, aber aneinandergekettet sind und daher erstmal ihre eigenen Rassismen überwinden müssen?




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Gedanken zum "Welttag für Seelische Gesundheit" aus Sicht eines Psychiatrie-Erfahrenen:"Würde im psychiatrischen Versorgungswesen"

ZUSAMMENFASSUNG
   - Würde von Patienten und Behandelnden ist eine bedingungsloses Anrecht.
   - Psychiatrie ist aufgrund der Definitionsvielfältigkeit von "Normalität" besonders anfällig, Ausgangspunkt für Benachteiligung zu werden.
   - Emotionalität in teils vorwurfsvoller Debatte kann nur durch mehr Zeit für gemeinsame Fehleranalysen gebremst werden.


von Dennis Riehle

Würde in der Psychiatrie, das sind für mich zwei Seiten einer Medaille, die untrennbar zueinander gehören: Als Psychiatrie-Erfahrener erwarte ich einerseits, dass mir als Patient die Würde zuteilwird, die das Grundgesetz garantiert - und die die UN-Behindertenrechts-konvention explizit und detailliert auf Menschen mit Behinderung (welcher Art auch immer) ausformuliert. Andererseits bin ich gegenüber jedem Behandelnden, jedem Mediziner, Therapeuten oder Pfleger dazu verpflichtet, auch ihm Würde zuzugestehen. Das bedeutet Respekt und Fairness - und in Momenten, in denen ich klare Blicke auf das werfen kann, wie ich vermeintlich "würdelos" behandelt wurde, den Versuch, für sein Handeln Verständnis zu zeigen und an ihn nicht das Paradoxon der menschlichen Unfehlbarkeit abzuringen.

Nein, ich bin in vielen Jahren der eigenen Betroffenheit und der Erfahrung mit Psychiatrie in all ihren Formen noch nie einem Gegenüber begegnet, dem ich unterstellen könnte, er würde seinen Beruf aus sadistischem Drang ausführen. Psychiatrie schränkt dort ein, wo Grenzen erreicht werden. Nicht nur für Patienten sind dies Augenblicke des Ausnahmezustandes; auch die Behandelnden stehen temporär in der Verantwortung, aus der schieren Hilflosigkeit zum eigenen und vor allem zum Schutze des Erkrankten mit Maßnahmen zu reagieren, die keinerlei Freude bereiten. Wir setzen auf Selbstbestimmung vom Beginn des Lebens bis zum Sterben - und wissen genau, dass uns Momente ereilen können, in denen wir nicht in der Lage sind, dieses Recht im Sinne der Menschenwürde einzuschätzen, auszudrücken oder einzufordern. Dann steht die Würde an oberster Stelle - und muss im Zweifel, sofern wir für diese Krisen keinerlei Anweisung im Vorhinein artikuliert haben, von denjenigen definiert werden, in deren Obhut wir uns befinden.
Würde ist bedingungslos. Wir können aber dazu beitragen, dass sie uns auch in Phasen der Not in unserem Verständnis zuteilwird, wenn wir die Möglichkeit nutzen, so konkret wie möglich zu verfügen, welche Konnexion wir uns für unerwartete Gegebenheiten wünschen. Zweifelsohne bleibt die Frage im Raum, ob sich Würde ausschließlich durch das Verhalten Anderer uns gegenüber oder durch den Umgang mit uns nehmen lässt. Viel eher, so meine ich, erklärt sich Würde auch insbesondere dadurch, ob und wie wir sie empfinden - oder wie wir sie in jenem Moment deuten würden, im welchem wir dazu fähig sind. Nicht die Deutungshoheit der Umwelt, sondern meine persönliche Wahrnehmung gibt den Ausschlag. Nicht alles, was Dritte als entwürdigend einschätzen, muss auch von mir als solches so verstanden werden - und umgekehrt. Diese Betrachtung gilt für mich auch, wenn ich als psychisch Erkrankter zeitweilig das Erkenntnisvermögen verliere, aber gleichsam immer der Anspruch bestehen darf, auf das eigene Verständnis von der Würde in urteilsfähigen Augenblicken zurückzusehen. Die Subjektivität spielt gerade auch in der Psychiatrie eine wesentliche Rolle. Sie ist wohl die einzige medizinische Disziplin, die derart auf Beurteilungen, Eindrücken und Interaktion basiert, dass nicht immer umgehend klar wird, welche Maßstäbe sich reiben.
Wenn wir ehrlicherweise das Recht auf Selbstbestimmung dem Grundrecht auf Würde und Unversehrtheit nachordnen, geben wir zwar einerseits einen Vertrauensvorschuss an diejenigen, die im Bedarfsfall unser Wohl retten wollen - weil ich der festen Überzeugung bin, dass die bedeutendste Mehrheit im psychiatrischen "System" (wie jeder andere soziale Akteur ebenfalls) für unsere Genesung und für unser Leben eintritt; andererseits können wir nicht erst durch gesetzliche Regelungen - die nicht nur rechtliche Absicherung für beide Seiten, sondern auch verlässlicher Leitfaden für die Akutsituation sind - darauf setzen, dass uns Wohlwollen angetragen wird. Denn während die - verständlicherweise von Betroffenen als tiefgreifende und nachhaltige Missachtung von Würde wahrgenommene - Zahl an Fehlverhalten in der Psychiatrie wahrscheinlich nur deshalb hoch erscheint, weil nicht selten die Möglichkeit zur genügenden Aufarbeitung, zur Kritik und dem Mut für einen Austausch an individuell und eben nicht objektiven Eindrücken zwischen Patient und Behandelndem ausbleibt, ist die helfende Intention des psychiatrischen Gesundheitswesens bislang wenig gewürdigt geblieben.
Sobald Selbstbestimmung eingeschränkt wird, können wir nach meinem Glauben an die unbedingte Präsenz des Grundgesetzes in den Köpfen unserer Gesellschaft davon ausgehen, dass dies aus Beweggründen für und eben nicht gegen die Würde geschieht. Verantwortungsvolles Handeln heißt auch, im Zweifel vor Unheil zu bewahren und den Verfassungsgrundsatz der Freiheit des Betroffenen in größtmöglicher Differenziertheit mit dem Anspruch auf die Sicherheit und Entfaltung des Behandelnden, Pflegenden oder Therapeuten abzuwägen. Nicht jeder selbstbestimmte Entschluss entspricht dem tatsächlichen Willen eines Erkrankten. Wer für eine grenzenlose und umfassende Selbstbestimmtheit plädiert, mag zwar im Vordergrund das absolute Entscheidungsrecht eines Individuums bestärken; dieser Überlegung sind aber die Realitäten fern. Denn sie basiert auf dem Standpunkt, wonach wir jederzeit in der Lage sind, uns gegenüber annehmend und so zu begegnen, wie wir es zu früherem oder späterem Zeitraum getan hätten. Selbstbestimmtheit entscheidet sich nicht in der Momentaufnahme, sondern auf perspektivisch getragener Lebenserfahrung. Wenngleich wir jede Krankheit und die damit verbundenen Symptome als Teil des menschlichen Schicksals verstehen oder sogar einfordern, auch vermeidbares Leid durchleben zu wollen, sind wir in der Balance der Menschenrechte nach meiner Sicht nicht berechtigt, ihm nur tatenlos zuzusehen - gerade und ausdrücklich dann nicht, wenn wir einen Eid geschworen haben, der zum Gegensätzlichen zwingt. Im Übrigen vertrete ich diese Meinung auch, wenn wir aktuell um Sterbehilfe oder den Beginn des Lebens debattieren.
Fairerweise muss in der Fragestellung nach der Würde des Patienten abschließend auch angemerkt sein, dass beschränkte und fördernde Rahmenbedingungen maßgeblichen Einfluss auf ihre Fähigkeit zur Entfaltung haben. Ob der Aspekt von Zuwendung und Zeit, Personal und Ressourcen, Ausstattung und Geld, Einstellung und Kommunikationsfähigkeit, die nicht nur die unmittelbar Handelnden im psychiatrischen Versorgungsnetz, sondern besonders auch Politik und Träger zu verantworten haben - es braucht neben der ideellen Ausgestaltung des Grundgesetzes die Bereitschaft zu einer gleichsam materiellen und lernfähigen Anstrengung. Gleichsam ist es nicht das Gesundheitswesen im engeren Sinne, das mit der Umsetzung von würdevollem Umgang arge Schwierigkeiten hat. Er startet nämlich nicht zuletzt beim Abbau von Diskriminierung, die bei einer systematischen Einklassifizierung seelisch Erkrankter in einen zweiten, dritten oder nicht monetär entlohnten Arbeitsmarkt zu beginnen scheint - und mit der Verbalattacke des Nachbarn auf den "Verrückten dort nebenan" endet.
Zusammenfassend bleibt meine Einschätzung aufrecht, dass die im Stau von Frust und Emotionen angesammelte und von Angst und etwaigen Vorurteilen gehaltene Anschuldigung, wonach das psychiatrische Versorgungswesen im Kern der Würde des Patienten entgegen zu arbeiten fähig und willig ist, nicht nur durch eine zunehmende gesetzgeberische Wegweisung, der Forcierung von Dialog, Information und Aufklärung, aber auch der Selbstreflexion und Kritikfähigkeit aller Beteiligten auf dem Wege ist, jegliche Grundlage zu entziehen - sondern gleichsam Fehler einzugestehen, Verbesserungen anzupacken und sich aus dem Schatten mancher dunkler Vergangenheit weit zu entfernen vermag.

Autor:
Dennis Riehle - Selbsthilfegruppenleiter Zwang, Phobie, psychosomatische Erkrankungen, Depression


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Backen und Essen mit Julian
Teil 5: Pizza

"Deine Pizza ist ein Italiener,
dein Brot ist ein Deutscher,
dein Böller ist ein Chinese,
dein Kraut ist ein Afghane,
dein Konto ist ein Schweizer.
Also glaub mir, auch dein Volk hat was,
wofür die Welt es bewundert."
(Propagandagedicht für Toleranz, freundliche Version)

Oh ja - Pizza ist sehr geeignet für eine multigourmetale Tischrunde. Denn auf ein und demselbem Exemplar können die verschiedensten Variationen untergebracht werden, und trotzdem muß niemand auf die eigene Vorliebe verzichten. Man ziehe zwei Linien im rechten Winkel durch den Teigmittelpunkt, dann wird 1/4 vegan, 1/4 koscher, 1/4 konu amok, und das letzte Viertel - ja, da kannst du die drei Mitbacker mit deinen Ideen beeindrucken.

Als Teig nehme man den einfachen Brotteig (siehe Teil 4), natürlich eine kleinere Menge als für ein Brot. (Was übrigbleibt, kann ja hinterher zu einem solchen verbacken werden.) Vielleicht 3-5 Gramm Teig pro 10 Quadratzentimeter der Pizza; 8 Gramm ergeben schon einen dicken Boden. Nach dem Kneten und etwas Gären wird er auf dem Blech ausgewalzt. Er sollte auf diesem noch etwas aufgehen, weil das Gewicht des Belags ihn nach unten drückt.

Diese Gärzeit kann zur Vorbereitung des Belags benutzt werden. Da ist ja einiges zu schnippeln. Nach dieser Gärung wird der Teig zunächst mit mildem Ajvar (Paprikacreme) bestrichen. Der folgende Schmelzkäse hat vor allem die Aufgabe, die anderen Zutaten am Teig "festzukleben". Daher sollte er einen hohen Fettgehalt haben und als erstes - und möglichst gleichmäßig verteilt - auf den bestrichenen Teig aufgelegt oder gestreut werden.
Das Beste an einer Pizza ist aber der eigentliche Belag, und da ist fast alles möglich. Meine Favoriten:
"Pizza Italia": Ajvar, Schmelzkäse, Peperoni - eine rote, eine weiße und eine grüne Zutat. Muß nicht unbedingt während der Fußball-WM.
"Pizza mit alles": eine Vielfalt an Zutaten. Meine Mischung umfaßt meist Zwiebeln, Oliven, Peperoni, Fetakäse/Mozzarella und/oder Knoblauch (gepreßt oder geschnitten). Bei Paprika sollten nicht die saftig-süßen Sorten gewählt werden, besser sind dünnwandige, z.B. hellgrüner Spitzpaprika. Alle Zutaten werden möglichst kleingehackt (Stücke mit Kantenlängen über einem Zentimeter sind schon groß) und entweder einzeln auf den Teig gestreut oder zu einem "Salat" gemischt und dann als solcher aufgebracht.
"Pizza Muh&Mäh": ein Belag aus Rinderhackfleisch und Schafskäse. Diese Variante darf etwas kräftiger gepfeffert werden.
"Pizza verde": Hier liegt der Schwerpunkt auf grünen Zutaten, eben gemüsig. Z.B. zwei Sorten grüne Paprika, Zwiebeln und Kräuter. Da kann auch der Käse reduziert und der Ajvar durch grünes Pesto ersetzt werden. Von diesem allerdings nicht zuviel, weil sein Geschmack doch sehr dominiert.

Oben auf den Belag kann noch etwas Schmelzkäse. Das Ganze wird mit Salz und Pfeffer abgerundet und dann endlich gebacken. Die Ofenzeit dauert etwa solange, bis der Schmelzkäse leicht braun wird.

Guten Appetit!


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Teil 6: Spezialschokolade

"It makes you happy, makes you sexy, makes you fat, but we don't care about that." (Band "Soul Control" im Lied "Chocolate")

Schokolade mache ich nicht selbst, verarbeite sie aber zu eigenen Rezepten. Dazu muß sie geschmolzen werden. Das braucht nicht viel Energie - Wenn der Ofen bei Brot oder Pizza eh schon heiß ist, kann man die Restwärme gleich nutzen.

Man zerbreche also eine Tafel Vollmilchschokolade, fülle die Stücke in eine hitzefeste Schale und stelle sie in oder direkt neben den Ofen (in die Abwärmeströmung). Ob der Heizkörper es auch tut, weiß ich leider nicht. Die Schokolade soll nur schmelzen und nicht anbrennen; nicht zu heiß werden lassen, nicht zu nah an die Heizelemente.
Man muß nicht warten, bis der Schaleninhalt ganz verflüssigt ist, wenn die Hälfte der Stücke zerfließen, kann man alles umrühren, dann schmilzt auch der Rest. Dann ist eh die Schale warm genug.
Kräuter und Gewürze aller Art können eingerührt werden. Die Schokolade dann auf einen flachen Teller ausgießen, besser auf ein biegsames Blech. Wird eine feste Füllung gewünscht, z.B. Haselnüsse, Sonnenblumenkerne, oder wovon sonst gerade eine Schachtel offen ist, wird diese vor dem Gießen auf dem Blech ausgebreitet. Die Füllung kann (und soll!) natürlich großzügiger bemessen werden als man es bei gekaufter Schokolade findet.
Der Teller muß noch abkühlen, in der letzten Phase im Gefrierschrank. Gefroren hart läßt sich die Schokolade leichter vom Blech lösen. Vielleicht zerbricht sie dabei, aber zum Essen würde man sie eh in Stücke zerbrechen. Auf keinen Fall die Schokolade in der Schale einfrieren, dort bekommt man sie nur mir großer Mühe wieder raus.

Ach ja, zu Haselnüssen muß ich noch was ergänzen: Das dünne Häutchen, das den Kern umschließt, bekommt man oft durch Rösten ab. Dazu werden die Nüsse auf dem Backblech im Ofen erwärmt. Nicht lange, nicht viel, nach ein paar Minuten platzt die Haut. Die warmen Nüsse kommen in ein verschließbares Gefäß, dieses wird verschlossen geschüttelt, so daß die Haut abfällt. (Problem: Etwas Nußfett klebt hinterher im Gefäß.) Was immer noch an den Kernen klebt, beeinträchtigt den Geschmack nicht.

Wer die Schokolade nach meiner Tradition essen möchte, macht es so: Tiefgeforen-knackig, mindestens eine Stunde im Gefrierfach. Eine ganze Tafel in wenigen Minuten. Gegessen wird im Badezimmer gleich neben der Zahnbürste, die anschließend auch benutzt wird.

Guten Appetit!
Julian / Braunschweig

P.S.:
Zum Abschluß der Serie das wichtigste Rezept: Traut euch, steht zu euren "Macken", solange sie anderen nicht wehtun. Weil es eben eure Individualität ist.



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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26