Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Juni 2018

Titelseite

Inhalt:
   - Studie zu Psychotherapie sucht Meinungen
   - Preisausschreiben
   - Fußball-WM am Gruppenabend?
   - Vernetzung
   - Systemische Therapiemethoden
   - Gitarre statt Knarre! - Buchbesprechungen
   - Das Schattendasein der psychischen Erkrankungen
   - Keine Antwort ist auch eine Antwort, Teil 3

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Karikatur zur Hitzwewelle

ZITAT

"讳疾忌医"
("huì jí jì yī - sich aus Angst, dass die Krankheit entdeckt wird, nicht behandeln lassen / aus Angst vor Kritik seine Fehler verheimlichen")

Eintrag im "Handwörterbuch der Gegenwartssprache Chinesisch-Deutsch"



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Studie zu Psychotherapie sucht Meinungen

Haben Sie Erfahrung mit Psychotherapie?

Eine Psychotherapie verhilft Betroffenen in der Regel zu einer Besserung ihrer Symptomatik, einem gesteigerten Wohlbefinden und zu mehr Lebensqualität. In einzelnen Fällen kann eine Psychotherapie jedoch auch mit unerwünschten Wirkungen und Folgen verbunden sein. Das kann beispielsweise passieren, wenn die Grenzen der professionellen therapeutischen Beziehung nicht eingehalten werden oder Fehler in der Behandlung auftreten.
Wenn Sie selbst schon einmal in psycho-therapeutischer Behandlung waren und bereit sind, anonym einige Fragen dazu zu beantworten, dann möchten wir Sie gerne zu unserer Fragebogen-erhebung einladen. Uns interessiert, wie Sie als Patient/in die Grenzen in der therapeutischen Beziehung definieren und welches Therapeuten-verhalten für Sie in der Vergangenheit akzeptabel war und welches nicht.
Das Ausfüllen wird ungefähr 30 Minuten in Anspruch nehmen. Geben Sie einfach den folgenden Link in die Adresszeile ihres Browsers ein und schon kann es losgehen:

https://www.uniklinikum-jena.de/grenzen.html

Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen sind sehr wertvoll für uns. Mit dem Ausfüllen des Fragebogens leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung und Patientensicherheit in der Psychotherapie. Dafür danken wir Ihnen sehr!

Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Dominique Schwartze
(Projektmitarbeiterin)

Wenn Sie mehr zu unserem Projekt erfahren möchten oder Rückfragen haben, dann besuchen Sie uns gerne unter: https://www.uniklinikum-jena.de/mpsy/AUDIT.html oder kontaktieren Sie mich via E-Mail (dominique.schwartze[ä]med.uni-jena.de) oder telefonisch unter 03641-935352.


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Preisausschreiben

Hierzu sind drei Beiträge eingegangen. Da wir auch drei Preise ausgeschrieben haben, steht schon fest: Jeder Beitrag erhält einen Preis. Welchen, ist aber noch offen, da das Urteil der Jury noch nicht vollständig feststeht.
Die Beiträge - z.T. nach Absprache gekürzt - werden in den nächsten Rundbriefen veröffentlicht.


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Fußball-WM am Gruppenabend?

Hier wieder wie alle zwei Jahre unser Fußballkalender. Schaut nach, ob eines der deutschen Spiele in eure Gruppenzeit fällt:

Runde  

Datum  

Gegner  

Vorrunde  

So, 17.6. 17:00  

Mexiko  

Vorrunde  

Sa, 23.6. 20:00  

Schweden  

Vorrunde  

Mi, 27.6. 16:00  

Südkorea  



Runde  

als Gruppenerster  

als Gruppenzweiter  

Achtelfinale  

Di, 3.7. 16:00  

Mo, 2.7. 16:00  

Viertelfinale  

Sa, 7.7. 16:00  

Fr, 6.7. 20:00  

Halbfinale  

Mi, 11.7. 20:00  

Di, 10.7. 20:00  

Spiel um Platz 3  

Sa, 14.7. 16:00  

Fiiii-nale, ooo-oh!  

So, 15.7. 17:00  

Für das "deutsche" Achtelfinale, egal welches, stehen schon die Mannschaften der Gruppe E fest: Brasilien, Schweiz, Costa Rica oder Serbien.

Alle Uhrzeiten sind Anpfiffzeiten in mitteleuro-päischer Sommerzeit. Falls eines dieser Spiele an eurem Gruppenabend ist, geht doch zusammen zum "Rudelgucken".
Viel Spaß und viel Freude mit sensationellen Toren! Und genausoviel Spaß in und mit eurer Gruppe!

P.S.:
Beim alten Rundbrief, um die Rubrik "Vor 10 Jahren" fertigzustellen, erinnerte ich mich wieder dran: Damals hatte ich einen Infoabend-Termin genau auf die Zeit eines EM-Spiels gelegt. Naja, Deutschland hat verloren, mein Vortrag wäre also schöner gewesen als das Spiel. Aber das wußte natürlich vorher niemand, also war ich allein.



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Vernetzung

Man denkt, Schüchterne wären einsam. Das stimmt auch, wenn es um vertrauensvollere Kontakte geht. Bei denen man weiß, nicht als "Freak" zu gelten. Aber flüchtige Kontakte sind doch oft und viel vorhanden. Bei mir sind es: Bioladen, Demonstrationen, Selbsthilfe-Stadttreffen, Craftbier-Stammtisch.
Das ergibt eine Menge Bekanntschaften, aus denen vielleicht mal mehr wird. Dieses "mehr" muß ja nicht im Bett enden. Freundschaften, bei denen abschätz-bar ist, wem man was und wieviel zugeben kann, sind auch schon gut. Und auch die Leute kennen wieder andere, die wieder...

Natürlich läßt sich das auch zur Werbung einsetzen, wenn man über die Gruppe redet. Es ist unklar, wer darüber von der Gruppe erfährt - aber bei Flugblättern weiß man auch nicht, wer sie mal lesen wird. Natürlich ist es eine Gratwanderung, was man offenlegt und wie man es ausdrückt. Aber das geht ja auch vorsichtig - "ich hab da ein gemeinnütziges Projekt am Laufen". Also versucht es.

"Ich kenn aber wirklich niemanden." Wirklich? Das glaube ich erst, wenn ich es bewiesen bekomme.

Julian / Braunschweig


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Systemische Therapiemethoden

ZUSAMMENFASSUNG
   - Teil 2 meiner Serie zur systemischen Therapie
   - Das "zirkuläre Fragen" zielt auf die Umgebung der "kranken" Person
   - Beim "Reframing" wird die Umgebung des Problems umgedeutet


Nach der kurzen Vorstellung im letzten Rundbrief möchte ich hier nun zwei typische - und revolutionäre - Ideen dieser Therapieart vorstellen. Der Text ist aus meiner Studienarbeit (die mit der Schulnote 2 bewertet wurde).
Die Genderfrage habe ich beantwortet, indem ich männliche und weibliche Formen abwechselnd benutze - dies erscheint mir als der gelungenste Mittelweg zwischen Gleichberechtigung und Lesbarkeit. (→1)

Zirkuläres Fragen

Das zirkuläre Fragen ist das charakteristische Instrument der systemischen Beratung. Mit Hilfe dieser Technik wird der Fokus der Beratung weg von den Eigenschaften der Einzelpersonen hin zu denen der Beziehung gelenkt - und damit die systemische Sichtweise auf Probleme angeregt.
Der Unterschied zwischen zirkulären und sonstigen Fragen ist dieser: Thema einer zirkulären Frage sind die Auswirkungen eines Problems nicht auf den Indexpatienten, sondern auf das System, in dem das Problem auftritt. Durch zirkuläres Fragen "wird die übliche Regel ... 'jeder spricht nur für sich!' radikal durchbrochen, indem reihum jedes Familienmitglied über bestimmte Beziehungsaspekte zwischen zwei oder mehreren befragt wird." (→2) Damit folgt es der Grundannahme, dass das Problem in der Beziehung der Systemmitglieder liegt und nicht in einem einzelnen Individuum.
Diese Art des Fragens ist außerdem eine praktische Umsetzung des ersten Axioms von Paul Watzlawick: "Man kann nicht nicht kommunizieren." Alles, was ein Mensch innerhalb eines Systems tut und von anderen wahrgenommen wird, ist immer auch Kommunikation. Es ist daher naheliegend, diese systeminterne Kommunikation und die Art, wie sie von den Empfängern interpretiert wird, zu erforschen.
Eine zirkuläre Frage ist nicht z.B.: "Wie geht es Ihnen im Moment?", sondern: "Wie, vermuten Sie, reagiert Ihre Frau auf Ihren derzeitigen Gefühlszustand?" Diese Frage zielt auf die Meinung des Klienten über die Beziehung zu seiner Frau, auf seine Vermutungen über seine Frau und darauf, was er selbst über sie denkt. Auch die Frau erhält diese (für sie neuen) Informationen über die Beziehung aus der Sicht ihres Mannes und gelangt dadurch auch zu einer neuen Sichtweise auf das System.

Natürlich geht es auch in einer systemischen Beratung um das Sammeln von Informationen über das Problem und mögliche Lösungswege. Daher gibt es von üblichen Therapeutenfragen auch zirkuläre Formen.
Dem Ziel, das Problem kennenzulernen und zu beschreiben, dienen "Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion". Diese kreisen um das Problem und um seine verschiedenen Definitionen. Zirkulär kann hier nach den verschiedenen im System vorhandenen Problem-beschreibungen und die Reaktionen darauf gefragt werden - z.B. auf wen das Symptom der Indexpatientin die meisten Einfluß ausübt oder in welchem Kontext es bevorzugt auftritt. Der "Auftragskontext", also das System, das die Therapie angeregt / angeordnet hat, ist ebenfalls ein Feld, das einer systemischen Betrachtung bedarf, und auch, wer inner- und außerhalb der Systems das meiste Interesse an einer Veränderung und wer an einer Beibehaltung des Problems hat.
Lösungen des Problems können durch "Fragen zur Möglichkeitskonstruktion" erarbeitet werden. Hier wird nicht die Wirklichkeit besprochen, sondern Gedankenspiele um das System und sein Problem durchgeführt. Sie können auch unrealistische Szenarien behandeln, ja, sie sollen es sogar. Der Sinn dieser Fragen liegt darin, die Kreativität der Systemmitglieder zu aktivieren; dies eröffnet die Chance, dass das System selbst eine akzeptable Lösung findet. Auch kann die Therapeutin hier Wege ins Gespräch einführen, die er zur Problemlösung beschreiten würde. Die Klienten müssen diese zwar nicht übernehmen, kann sie aber als Ansatzpunkt für eigene Lösungsideen benutzen. Auch "Verschlimmerungsfragen" können gestellt werden: dies sind Fragen danach, was die Klienten tun müßten, um das Problem zu verschlimmern. Sie sind nicht als Lösungsvorschläge gedacht, sondern durch sie kommt ans Licht, welche Interaktionen vermieden werden sollten, da sie das Problem aufrecht erhalten.

Reframing

"Reframing" kommt vom englischen Wort "frame" (Rahmen) und ist die praktische Umsetzung der Annahme, dass jeder Nachteil auf einem anderen Gebiet ein Vorteil ist. Es bedeutet die Umdeutung eines Problems, die Änderung der Sichtweise. Das Problem selbst wird so beibehalten, wie es ist, aber es wird in einen neuen Rahmen gestellt, der ihm eine andere Bedeutung gibt. Diese ist dann nicht mehr eine negative, sondern eine positive. Das bekannteste Beispiel des Reframings ist das Glas, das im defizitorientierten Kontext als halbleer, im ressourcenorientierten Kontext aber als halbvoll angesehen werden kann. Um ein Reframing zu erzielen, muß sich ein systemischer Berater bei dem Problem seines Klienten fragen: "Welcher Kontext wäre denkbar, unter dem das Problem sinnvoll wäre, ja, vielleicht sogar die beste Lösung darstellen würde?" (→3)
Die Klientin hat möglicherweise bis zu diesem Punkt ihr Problem nur im negativen Rahmen gesehen. Reframing ist hier ein Mittel, die Problemsicht der Klientin um eine andere Perspektive zu erweitern und neue Handlungsspielräume aufzuzeigen. Auch wird dadurch die alte Sichtweise verstört: "Wenn 'alles auch anders sein' könnte, anders gesehen werden könnte, ist schon viel dafür getan, dass die Dinge nicht mehr so festgefahren und rigide erlebt werden wie bisher." (→4)

Julian / Braunschweig

↑1 so wie es auch v. Schlippe und Schweitzer in ihrem Buch tun.

↑2 Jürgen Kriz: Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten, S.58

↑3 Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer: Lehrbuch des systemischen Therapie und Beratung. 6. Auflage (1999), S179

↑4 ebd. S.180




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Gitarre statt Knarre!

In den letzten Tagen fand ich zufällig (unabhängig voneinander) zwei Bücher über zwei Persönlichkeits-ausprägungen, die sich mit Sozialphobie überschneiden. Sie sind gar nicht so unterschiedlich, wie sie scheinen.

Das erste Buch handelt von Exzentrik, dem "kauzigen" Anderssein an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn. Die Autorin outet sich darin selbst als leicht exzentrisch. In 11 Kapiteln bietet es einen Rundum-Überblick über alle wichtigen Unterthemen; in einem davon natürlich über viele Arten von Exzentrik. Der Straßenprediger kommt genauso vor wie der still-versteckte Garagenerfinder.
Kapitel wie "Ich frühstücke heute ein Glas grünen Pesto" machen Lust, öfter mal zu eigenen "Macken" zu stehen. Natürlich weckt ein solches Buch auch Erinnerungen an und berichtet von Ausgrenzung und Mißverstanden-Werden. Die Kapitel über Kindheit und Beziehungs-probleme können dadurch zur schweren Kost werden. Aber auch sie werden vom humorvoll-akzeptierenden Stil der Autorin ausreichend erträglich gemacht. Da Exzentrik davon abhängt, von welchem Zentrum man abweicht, berichtet das Buch auch aus anderen Kulturen - wobei die Autorin eigene Erlebnisse von einer Voodoo-zeremonie in Afrika einbringt. Und da Exzentrik zum Klischee über englische Lords gehört, folgt ein Kapitel über geborene und selbsternannte Adlige (wie Joshua Norton, den "Kaiser der USA").

Das andere Buch schrieb der bekannte Psychiater, Angstforscher und Hobbygitarrist Borwin Bandelow. Es beleuchtet den Zusammenhang zwischen seelischen Krankheiten und Massenwirkung bei berühmten Musikstars. Borderline gilt ihm als Softskill für den Rockstar-Job, Narzissmus als Antreiber für den harten Weg auf der Karriereleiter. Die vielen Skandale der Stars (geplatzte Termine, zerlegte Hotelzimmer, Arroganz, Drogen, Kindersex etc.) werden damit nicht als Folge des Promilebens gesehen, sondern als Symptome eben jener psychischer Krankheiten.
Das Buch geht Biographien vieler Stars - ganz große wie z.B. Jimi Hendrix, Robbie Williams, Edith Piaf, Elvis Preßluft - nach typischen Symptomen und Risiko-faktoren psychischer Krankheiten durch. Die Auswahl der Stars ergibt zwar keine nach wissenschaftlichen Kriterien abgesicherte Studie, aber doch ein starkes Anzeichen für seine These. Und eine gute Mischung mit den wissenschaftlichen Ausführungen zu Hirnchemie und Psychologie. Den größten Kritikpunkt zum Buch nennt der Autor selbst in einem Zitat des bayerischen Pop-Königs Ludwig II.: "Wie haben Sie dazu kommen können, über meinen Zustand ein Gutachten abzugeben, da Sie mich doch niemals untersucht haben?"
Tanz Tanz Tanz, Habibi!
Beide Bücher bieten eine Menge Namen und Fallgeschichten. Viele davon wecken den Drang, sie zu googeln und mehr zu erfahren - über die Menschen, ihre Werke und ihre öffentliche Wirkung. Es macht auch Spaß, erwähnte Songs beim Lesen anzusingen.
Beide Bücher vermitteln die selbe Erkenntnis: Kunst und So-sein-wie-man-eben-ist sind eine gute Selbsttherapie. Die Andersartigen haben ihren Platz in der Gesellschaft gefunden, sie mit ihrer Kunst bereichert und sind nicht in die Asi-Schublade abgeschoben worden.

Julian / Braunschweig


Tania Kibermanis: Spleen Royale. Alles, was Sie über Exzentriker wissen sollten.
Rowohlt Verlag, 2017
ISBN 978-3-499-63211-2, 9,99 EUR

Borwin Bandelow: Celebrities. Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein.
Rowohlt Verlag, 2006
ISBN 978-3-499-62275-5, 9,99 EUR



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Das Schattendasein der psychischen Erkrankungen

ZUSAMMENFASSUNG
   - Subjektive Wahrnehmung: Verbreitung der Depressionen wächst
   - Toleranz gegenüber psychischen Erkrankungen bleibt theoretisch
   - Leistungsdruck und Schnelllebigkeit sind seelische Herausforderungen der Zukunft


Da sitze ich - und nehme mir kurz Zeit, um diesen Text zu schreiben. Ich bin dankbar, dass das Telefon gerade nicht klingelt und keine neue Mail in meinem Postfach angekommen ist. Denn über die Wintermonate, da ist die Nachfrage groß - die Nachfrage von Menschen mit seelischen Erkrankungen, die nach Hilfe suchen. Als Selbsthilfegruppenleiter scheine ich eine der niederschwelligsten Zugangswege zu irgendeiner Form von Unterstützung zu sein, die in großer Not zumindest einen Rat geben kann. Wo finde ich den nächsten Therapeuten? Wie lange muss ich auf einen Therapieplatz warten? Woher kommen meine Depressionen? Wie gehe ich mit meinen Angehörigen um, die nicht nachvollziehen können, dass ich krank bin? Und welche Behandlung hat Ihnen geholfen, um wieder fit zu werden?

Diese und andere Fragen reihen sich seit Wochen aneinander. Und natürlich versuche ich, jede einzelne mit großer Sorgfalt zu beantworten. Dabei ist es nicht nur meine Wahrnehmung, sondern auch meine eigene Statistik, die mir sagt: Jedes Jahr wird der Ansturm größer. Besonders viel Bedarf an Hilfe besteht über die dunklen Tage hinweg, in denen die Menschen zum Grübeln neigen - oder sich im Weihnachtsstress das BurnOut ankündigt. Das ist die Hochphase für Ehrenamtliche wie mich, die es sich aus eigener Betroffenheit zur Aufgabe gemacht haben, denjenigen zur Seite zu stehen, denen 50 Minuten Psychotherapie pro Woche nicht genügen, die auf der Suche nach jenen sind, die sich aus der eigenen Erfahrung mit dem Gefühl auskennen, seelisch plötzlich leer und ausgelaugt zu sein.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Auch im 21. Jahrhundert erlebe ich es fast täglich, dass ich selbst schräg von der Seite angesehen werde, dass ich aberwitzige Kommentare über die Ursachen psychischer Erkrankungen zu hören bekomme oder dass man mir und allen Anderen, die mit seelischen Konflikten zu ringen haben, Empfehlungen austeilt, wie es uns denn besser gehen könnte. Die Einen sagen, man müsste mehr Sport treiben, die Anderen denken, es würde helfen, sich gesünder zu ernähren. Die Dritten meinen, psychisch Kranke hätten zu oft gesündigt und die Vierten empfehlen, öfter ans Licht zu gehen. Wenn denn alles so einfach wäre, unsere Gesellschaft würde vor seelischer Gesundheit nur so strotzen.

Die erst kürzlich veröffentlichte Studie über den Wissensstand der Deutschen in Bezug auf Depressionen hat uns den dringenden Auftrag an die Hand gegeben, die Sensibilisierung für das Thema psychischer Leiden noch viel stärker voranzutreiben. Regelmäßig spreche ich vor Schulklassen und referiere ihnen meine persönliche Geschichte. Denn das, so zeigt es sich immer wieder, beeindruckt mehr als Information und Fakten darüber, was es denn bedeutet, seelisch krank zu sein. Die Erfahrbarkeit im Alltag, dass Menschen mit psychischen Handicaps ganz normal sein können, sie hinterlässt bleibende Spuren - nicht nur bei den Jugendlichen. Wir brauchen mehr Menschen, die über das Tabu sprechen, ein bisschen "verrückt" zu sein.

Denn auch wenn mir immer wieder versichert wird, dass die Bevölkerung heute doch schon viel offener über die "Volkskrankheit Depression" spreche, so spüre ich, dass sich solch eine Toleranz vor allem gegenüber dem Theoretischen zeigt. Sobald wir auf Menschen treffen, die tatsächlich nicht mehr aus dem Bett kommen, weil sie den ganzen Tag an die Wand starren, ihr Körper zu schwer ist, um aufstehen zu können, sie keinerlei Grund sehen, überhaupt noch in den Tag zu starten und jedwede Perspektive für ihr Leben verloren haben, dann beginnen sich die Vorurteile in unserem Kopf zu drehen: Ist er nicht einfach nur zu faul? Spielt er nicht nur etwas vor, simuliert er, um nicht zur Arbeit gehen zu müssen, sich vor dem Alltag drücken zu können?

Die Berührungsängste sind groß, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, was wir uns selbst gar nicht vorstellen können. Natürlich hat jeder von uns schon sein Tief erlebt, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. Doch wie ist das, wenn man vor Angst über Monate hinaus die eigene Wohnung nicht mehr verlässt? Wenn man wie angekettet die Decke über den Kopf zieht und jegliches Gefühl für alles und jeden verloren hat? Wenn man merkwürdige Dinge tut, sich dauernd wäscht, ständig kontrolliert, wenn man Dinge sieht, die für Andere nicht da sind? Wenn Stimmen flüstern und die Wahrnehmung nicht verfliegt, permanent beobachtet oder verfolgt zu werden? Vielleicht machen wir es uns manches Mal zu leicht, wenn wir nicht wissen, wie wir mit Menschen umgehen sollen, die eben "anders" sind.

Ich kann jeden verstehen, der eben nicht versteht, was es heißt, psychisch krank zu sein. Das voreilige Mitgefühl, man könne sich schon gut in meine Lage versetzen, es wirkt nicht nur unpassend, sondern es relativiert ein Leiden, in das sich nur Wenige tatsächlich hineinversetzen können. Denn nicht jede Psychose ist gleich, nicht jede Angst der anderen ähnlich. Deshalb ermutige ich nicht, den Versuch zu unternehmen, jemandem mit einer seelischen Erkrankung nachempfinden zu können. Es genügt allein der Respekt vor der Tatsache, dass jemand lädiert ist, der von Wahnvorstellungen, Depressionen oder Phobien geplagt ist - und dass er sich das nicht alles nur einbildet, sondern solch eine Krankheit genauso ernst zu nehmen ist wie ein Herzinfarkt oder ein Knochenbruch.

In einem Jahrzehnt, in dem der Leistungsdruck mehr wird, das Ideal des immer Weiter, Schneller, Höher zum Maßstab aller Dinge geworden ist, da müssen wir uns nicht wundern, dass manch eine Seele zu streiken beginnt. Ich bin überzeugt, dass gesellschaftliche Zwänge und ein transhumanistisches Credo, wir könnten über uns selbst hinauswachsen, erheblich dazu beitragen, dass sich bei unseren Psychiatern Einer nach dem Nächsten die Klinke in die Hand gibt. Dass Einiges der psychischen Krankheiten in unserer Bevölkerung hausgemacht ist, das sollte uns zu denken geben. Nicht nur, wie wir uns gegenüber denen verhalten, die seelisch kapituliert haben. Sondern auch, ob wir uns nicht an der eigenen Nase packen sollten, wenn wir besserwisserisch über die urteilen, deren Psyche streikt.

Denn die meisten Betroffenen, die den Kontakt zu mir suchen, sie geben zu, dass sie nie damit gerechnet hätten, selbst einmal psychisch krank zu werden. Es kann jeden treffen, das sollte uns bewusst sein. Und gleichzeitig sollten wir wissen, dass wir mit einem gesellschaftlichen Umdenken dazu beitragen könnten, Entschleunigung, Achtsamkeit und Besonnenheit in Arbeitsleben, Medienkonsum und Freizeit zu bringen. Das ist kein Allheilmittel gegen Depressionen oder Ängste, aber ein erster Schritt. Die Ehrlichkeit, nicht über den seelischen Zustand des Gegenübers befinden zu können, ihm aber Wertschätzung dadurch entgegenzubringen, dass ich seine Nöte anerkenne. Eigentlich sollten diese Wünsche selbstverständlich sein, sie sind es aber eben nicht. Psychische Erkrankungen führen weiterhin ein Schattendasein. Und die Stigmatisierung ist ein Alltagsgeschäft. Wie schön wäre es, wenn es künftig weniger florieren würde...

Dennis Riehle
Selbsthilfeinitiative Zwangserkrankungen, Phobien, psychosomatische Störungen und Depressionen im Kreis Konstanz
Martin-Schleyer-Str. 27, 78465 Konstanz
Mail: info[e]zwang-phobie-depression.de
Web: www.zwang-phobie-depression.de


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Keine Antwort ist auch eine Antwort
Teil 3: Süße Verlockung der Toleranz

Diese Folge brauche ich, um meine Gefühle zu einem Gewaltvorfall im April auszudrücken. Da wurde in Berlin ein Israeli mit Kippa auf der Straße gewaltsam angegriffen. Nein, der Hintergrund des Täters macht es weder schlechter noch besser. Als wäre Straßengewalt gegen Andersgläubige nicht schlimm genug, bin ich enttäuscht von der Reaktion der Gesellschaft jenseits der üblichen Betroffenheitsroutine. Ich habe bei change.org (→1) nachgesehen, wieviele Klicks welche Petitionen erreichten:

Schläfert Chico ein! (seit 7.4.18)  

60  

Stoppt den Antisemitismus in Deutschland! (seit 11.12.17)  

1.222  

Anerkennung von "Asozialen" und "Berufsver-brechern" als Opfer des Nationalsozialismus (seit 14.1.18)  

10.977  

Kein #Kreuzzwang in öffentlichen Institutionen! (seit 25.4.18)  

46.644  

Die Abschiebungen müssen gestoppt werden! In Offenbach sind ca 70 Schüler*innen betroffen (seit 21.6.17)  

58.999  

Herr Spahn, leben Sie für einen Monat vom HartzIV-Grundregelsatz! (seit 12.3.18)  

214.256  

Lasst Chico leben! (seit 7.4.18)  

291.919  


Vorher schon (24 Stunden nach dem Vorfall) hatte ich auf den Webseiten der Bundestagsparteien gesucht, ob sie dazu eine Pressemitteilung online gestellt hatten. Nur zwei hatten. Die eine war die FDP. Und die andere - könnte das Hinschauen-statt-Wegschauen-Bündnis bitte genauso laut gegen Antisemitismus aufschreien wie gegen diese andere Partei?
Findet sich Solidarität mit Menschen, zu denen eine "besondere historische Verantwortung" gefordert wird, wirklich auf keiner Seite des Meinungsspektrums?

Damit komme ich zum heutigen Mail ohne Antwort. Eine Aktion für solche Solidarität war am Jahresanfang: Ein Werbeplakat für vegane Süßwaren zeigte eine Muslimin mit Kopftuch. Die Folge war ein Shitstorm von rechts. Zu dieser Idee mußte ich einfach nachfragen. Die Werbeagentur war leicht zu finden über ein Interview, das der Werbetexter zu der Kampagne gegeben hatte. Na dann:

Date: Thu, 1 Feb 2018 21:13:55 +0100 (CET)
From: Julian Kurzidim
To: hello@[Werbeagentur].de, info@[Süßwarenfirma].de
Subject: Idee erweitern: "[Süßwarenfirma] wirbt für religiöse Toleranz"

Sehr geehrter Herr [Werbedesigner],
sehr geehrte Damen und Herren von [Werbeagentur] und [Süßwarenfirma],

Ihre neue Werbekampagne hat ja "eingeschlagen". Die Reaktion zeigt deutlich: Auch der Islam hat eine gute Werbeagentur nötig, die mit einer intelligenten Kampagne zeigt: Unter 90% der deutschen Kopftücher sucht man Vorurteile gegen "Kuffar" vergeblich.
Aber das muß der Zentralrat der Muslime in Auftrag geben.

Ich habe vielmehr die Idee, Ihre Kampagne etwas zu variieren: Ein Jude mit Pejes und Kippa und eine Muslimin mit Kopftuch beißen an je einem Ende in ein [Süßwaren-Produkt]. (Das muß natürlich ein größeres sein, aber sowas bieten Sie sicher an.)
Das würde zeigen:
- [Süßwarenfirma] liebt alle Religionen
- [Süßwarenfirma] ist gegen religiös motivierte Gewalt, egal wer gegen wen
- es zeigt die Religionen in friedlichem Kontext und ist damit eine notwendige Ergänzung zu den Berichten von Haß und Nahostkrieg
- [Süßwarenfirma] entspricht allen religiösen und gesundheitlichen Qualitätsstandards
- es würde evtl. sogar an die Kampagnen "United Colors of Benetton" und "Lonsdale loves all colors" anknüpfen.

Was ist Ihre Meinung zu dieser Idee?

Mit freundlichen Grüßen
Julian Kurzidim


Ich muß aber zugeben, daß ich nicht weiß, wie ich eine Antwort, die hätte kommen können, gekontert hätte: "Weil wir Ihre Idee so gut finden, wollen wir Sie auf dem Plakat zeigen. Wollen Sie den Juden oder die Muslimin spielen?"

↑1 Change.org ist eine Webplattform, auf der man Onlinepetitionen per Klick unterstützen kann. Da diese Klicks von niemandem verhindert oder erzwungen werden, zeigt die Anzahl der Links, was den Leuten wichtig ist und was nicht. Die Zahlen sind vom 5. Mai. Chico war der schwerkranke Kampfhund, der sein Herrchen totgebissen hatte.




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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26