Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Oktober 2019

Titelseite

Inhalt:
   - Bundesregierung äußert sich zu Einsamkeit
   - Video über Sozialphobie
   - "Der Witz vom Papagei"
   - Noch ein kleiner Ausweg
   - Depression: Unser Leben braucht stets den Plan B
   - Was kann ICH tun? Teil 5

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ZITAT

"All my scars remind me, my worst days are behind me"
("Alle meine Narben erinnern mich daran, meine schlimmsten Tage liegen hinter mir")

"The Interrupters" im Lied "Title Holder"



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Bundesregierung äußert sich zu Einsamkeit
In der Antwort auf die Kleine Anfrage wird auch auf Selbsthilfegruppen verwiesen

Die Bundesregierung hat ihre Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zu "Einsamkeit und die Auswirkung auf die Gesundheit" veröffentlicht. In der Kleinen Anfrage wurde nach der Verbreitung von Einsamkeit, der Bedeutung von Einsamkeit für die Gesundheit, aktuellen Maßnahmen und künftigen Strategien gegen Einsamkeit gefragt. An aktuellen Maßnahmen nennt die Bundesregierung unter anderem: einen Fachkongress zu Einsamkeit im Alter, das Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus, die Pflegeversicherung, die Förderung von Gemeinschaftseinrichtungen und lokalen Basis-dienstleistungen im ländlichen Raum, welche von Bundesministerien oder anderen Behörden verantwortet werden. Auf die Frage, was auf globaler Ebene gegen Einsamkeit unternommen werden könne, erwähnt die Bundesregierung die Weltgesundheitsorganisation WHO, welche auf "die Bedeutung von Organisationen älterer Menschen wie z.B. Gemeinschaftsgruppen und Selbsthilfegruppen" hingewiesen habe. Investitionen in diese Organisationen können das Engagement älterer Menschen erleichtern und für die Identifizierung von sozialer Isolation und Einsamkeit wichtig sein.
Mit Kleinen Anfragen können Bundestagsgabe-ordnete und -fraktionen von der Bundesregierung Auskunft über bestimmte Sachverhalte verlangen. Bereits im Vorjahr hat sich die Bundesregierung so mit dem Thema Einsamkeit befasst. Damals hatte die Fraktion DIE LINKE eine Kleine Anfrage zu "Einsamkeit im Alter - Auswirkungen und Entwicklungen" gestellt. Auch in dieser Antwort wurde auf Selbsthilfegruppen hingewiesen, weil sie die Versorgung von Pflegebedürftigen verbessern.

Quelle: NAKOS 2019
Text: NAKOS Internetredaktion,
www.nakos.de/aktuelles/nachrichten/key@6979


Antwort der Bundesregierung: Deutscher Bundestag, Drucksachen 19/10456 und 19/4760


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Video über Sozialphobie

Der "Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen" hat bei Youtube ein Einführungs-Video über soziale Phobie veröffentlicht.
Der Leiter der Bonner Selbsthilfegruppe "Schritt vorwärts" erklärt die soziale Phobie, den Nutzen von Selbsthilfe-gruppen und Reaktionen des "nichtphobischen" Umfelds. Er geht dabei auch auf eigene Erfahrungen ein - damit ist das Video ein echtes Selbsthilfe-Statement.
Das Video ist 4 Minuten kurz und eignet sich damit auch als Einstieg ins Thema, z.B. um es Angehörigen, Bekannten usw. zu zeigen.

Titel: "Klaus Nitschke erklärt Sozialphobie"
Link: https://www.youtube.com/watch?v=F19GqEQlyi0


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"Der Witz vom Papagei"

Die folgende Geschichte habe ich im Buch "Denken wie ein Shaolin" (→1) gelesen. Sie findet sich allerdings auch in vielen anderen Büchern, z.B. Witzesammlungen, daher kann sie nur zum copyrightfreien Allgemeingut zählen. Ich möchte sie daher auch nicht zitieren, sondern frei wiedergeben:

Drei Brüder sind reich geworden. Auf dem Weg zur 80. Geburtstagsfeier ihrer Mutter erzählen sie sich von ihren Geschenken.
Der erste: "Sie hat soviel erzählt von der Armut in ihrer Kindheit. Ich habe ihr also einen großen Goldbarren geschenkt. Den hat ein Sicherheitsmann an ihrem Geburtstag zu ihr nach Hause gebracht."
Der zweite: "Sie hat ja viel erzählt von dem engen Loch, in dem sie aufgewachsen ist. Davor muß sie keine Angst mehr haben. Ich habe ihr also ein Haus geschenkt mit 20 Zimmern. Den Vertrag hat ein Notar an ihrem Geburtstag zu ihr nach Hause gebracht."
Der dritte: "Sie hat so oft in der Bibel gelesen, aber mit 80, die kleinen Buchstaben, die Augen, ihr wißt ja. Ich habe ihr also einen dressierten Papagei geschenkt, der die ganze Bibel aufsagen kann. Den hat ein Zoopfleger an ihrem Geburtstag zu ihr nach Hause gebracht."
Als sie bei der Mutter eintreffen, kommentiert sie die Geschenke:
"Der Goldbarren: naja, sehr wertvoll, aber ich habe Angst, daß ein Einbrecher kommt. Das Haus: viel Platz, aber mehr als ich bewohnen kann. Aber der Vogel: perfekt. Ich habe in meinem ganzen Leben, in all den 80 Jahren, noch nie einen sooo leckeren Broiler gegessen."


Nun stelle man sich vor: In seinem eigenen Entsetzen und im Gelächter der anderen soll der dritte Sohn erkennen, daß sein eigentliches Anliegen - der Mutter ein perfektes Geschenk zu machen - erfüllt wurde. "Oh, uups, äääh, ja schön, daß es dir gefallen hat." Diese Geistesgegenwart in schwierigen Umständen ist eine schwierige Übung und dem Niveau des Shaolin-Kungfu angemessen.
Mir in meiner ruhigen Stunde fiel aber die Einschränkung ein, daß ein untrainierter Papagei genauso gut für den Zweck geeignet wäre. Außerdem kommen mir die Zweifel, ob in 80 Jahren wirklich kein besserer Broiler auf dem Tisch war. In einer Erzählung wie "damals in meiner Jugend, als man sich das Fleisch noch direkt vom Bauernhof holte", dürften Gedanken an ähnlich perfekte Mahlzeiten wieder auftauchen.

Manchmal hat dieser Witz noch eine Fortsetzung, in der der dritte Sohn die oben genannte Geistesgegenwart nicht hat. Sie zielt statt dessen auf die Brauchbarkeit von besonderen Fähigkeiten:

"Aber Mama! Das war ein ganz besonderer Vogel! Der konnte die ganze Bibel aufsagen!"
"Achso? Aber warum hat er mir das nicht gesagt?"


Julian / Braunschweig

↑1 Zu diesem Buch auch die Vorstellung im Rundbrief 2/19 (April)




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Noch ein kleiner Ausweg

Hier eine kurze Diskussion, die ich vor kurzem mitgehört habe. Weil sie so gut zu meinem Text "Viscardigasse" im letzten Rundbrief paßt - soll heißen, zu dem Thema "einen Ausweg finden" - ist sie mir aufgefallen.
Ein Paar hat sich ein schönes Essen zubereitet und plant an dessen Ende scherzhaft den weiteren Abend:

Er: "Es wird erst ins Bett gegangen, wenn der Topf leer ist."
Sie: "Dann schlaf ich auf dem Sofa."

Julian


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Depression: Unser Leben braucht stets den Plan B
Erfahrungsbericht

ZUSAMMENFASSUNG
   - Depressionen werfen oft Lebensläufe "über den Haufen"
   - Wir sollten in unserem Leben einen "Plan B" bereithalten!
   - Erkrankung darf nie zum alleinigen Lebensinhalt werden


Wann ist man depressiv? Eine schwierige Frage in Zeiten, in denen das "BurnOut"-Syndrom grassiert und wir rasch bei einer Erschlaffung, bei einer Trauer, bei einer ganz gewöhnlichen Gefühlsreaktion auf äußere Umstände meinen, wir könnten bereits in einer Depression stecken. Seit die Aufklärung über diese Erkrankung zugenommen hat, ist sicherlich auch die Zahl der Diagnosen gestiegen. Denn das Bild der Depression hat sich gewandelt, die Anforderungen an das Krankheitsbild wurden herabgesetzt und andere Erkrankungen wie die Neurasthenie, das Erschöpfungssyndrom oder eben das Ausgebranntsein blieben zugunsten oder zulasten der Depression eher weniger beachtet. Dabei mag es oftmals auch schwierig sein, das Ausmaß einer tatsächlich depressiven Phase für diejenigen zu erfassen, die diese noch nie erlebt haben.

Es mag überheblich klingen, aber ich konnte mir selbst lange nicht vorstellen, wie depressiv man wirklich sein kann. In den Jahren, als ich mit einer Zwangserkrankung kämpfte, schob ich vieles rasch auch auf eine Depression, vielleicht, weil sie eher in Mode war und der Außenwelt noch leichter vermittelt werden konnte als ein Händewaschen, Kontrollieren oder Zählen. Dabei war es anfangs sicher die früher noch als "Reaktive Depression" beschriebene Anpassungsstörung, von der ich geplagt war, als ich eingestehen musste: Mein Leben verläuft nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Träume müssen wir alle aufgeben, auch Hoffnungen und Ziele. Doch wie oft muss es sich denn tatsächlich vollständig umkrempeln, ehe wir erkennen, dass all das, was wir uns vorgenommen hatten, wahrhaftig nicht mehr Wirklichkeit werden kann?

Kein Studium, nicht die Ausbildung, nach der man sich gesehnt hatte, eine frühe Schwerbehinderung, körperliche und seelische Leiden gemeinsam, eine zunehmend eingeschränkte kognitive Fertigkeit, rückläufige Selbstständigkeit im eigenen Leben - all das zu fassen und dann auch zu ertragen, es war für mich nicht immer einfach. Nachdem ich mein Abitur absolviert hatte und mit Beginn des Studiums schwere Ängste entwickelte, begann ein Übel, das sich bis heute hinzieht. Mittlerweile berentet, frage ich mich nicht selten nach dem Sinn, der mir bleibt, wenn all das, was ich mir ausgemalt hatte, in den Fingern zerrinnt. Nein, es ist kein Mitleid mit mir selbst, es ist eine Fassungslosigkeit, ein Fragen nach dem "Warum", das völlig normal ist, denn ist menschlich. Und wir alle existieren doch davon, uns täglich neu zu fragen, was wir eigentlich auf dieser Welt sollen und wollen.

Natürlich fallen die Antworten ganz unterschiedlich aus: Bei manchen Menschen geht es in Krisenländern um das reine Überleben, da ist die Vision nur, nicht in Qualen sterben zu müssen. In unseren Breiten, in denen wir Wohlstand erleben und selbst die Ärmsten vergleichsweise noch immer die Perspektive haben, ein "soziokulturelles Existenzminimum" erreichen zu können, sind es andere Überlegungen, die wir über das Hier und Jetzt, vor allem aber auch über das Zukünftige anstellen. Diese Unsicherheit plagte mich rasch als wesentliches Thema einer Spirale, in der ich Sorgen aus meinen teils psychotisch anmutenden Zwangsgedanken mit der Wirklichkeit vermischte und mich fragte: Gibt es einen Grund, morgens noch aufzustehen? Einem Beruf war ich zwar in geringfügigem Umfang schon alleine deshalb noch nachgegangen, weil ich ansonsten verrückt geworden wäre in meiner eigenen Definition, Existenz rechtfertige sich allein über Leistung.

Die Freiberuflichkeit ließ viel Spielraum, im Bett liegen bleiben zu können. Und das nicht aus reiner Lustlosigkeit, sondern aus dem einfachen Umstand heraus, gar nicht die Decke vom Kopf zu bekommen, die man sich weit über den ganzen Körper gezogen hatte, als Schutz einerseits vor den "Gefahren" des Alltages, andererseits als Zeichen, nicht gestört werden zu wollen und sich gleichermaßen im Dunkeln unter ihr noch viel stärker in ein Karussell aus Hoffnungslosigkeit, bemitleidenden Gedankenphrasen und Glaubenssätzen der Wertlosigkeit, aber auch ganz ernst gemeinten Grenzen körperlicher Fähigkeiten, Traurigkeit mit einer eingefrorenen Emotionalität, die nicht mehr weinen ließ, obwohl man es sich so gewünscht hatte, um den angesammelten Druck aus Wut, Enttäuschung und Hilflosigkeit endlich Raum zu lassen, einzusteigen und weitere Runden zu drehen, bis der ersehnte Abend endlich gekommen war und man ohne Pause ins Schlafen übergehen konnte.

Den Tag nicht nur vertrödeln, sondern ihn bewusst an sich vorbei ziehen zu lassen, sich zu wünschen, dass diese Stunden endlich vorbeigehen mögen, mit einem zaghaften Wunsch, dass diese Depression sich endlich lindern möge oder man endlich erlöst würde. Dabei war zumindest immer die Perspektive, vielleicht könnte es doch noch therapeutische Maßnahmen geben, die diese Tiefe, in der man hockte, ohne sich wie in einer tiefen Felsspalte gefühlsmäßig noch in irgendeine Richtung zu bewegen, überwinden ließe. Doch über Tage, über Wochen und Monate verging ein Zeitraum des Grauens, in dem nichts schwingte, wie ein Psychiater sagen würde, in dem man froh gewesen wäre, zumindest der unendlichen Bewegungslosigkeit in jeglicher Hinsicht entfliehen zu können. Doch nichts hörte, die Beine und Arme nicht, der Kopf nicht. Zumindest hatte ich es mit viel Kraftanstrengung zwischendurch geschafft, noch die wichtigsten Termine wahrzunehmen, die Anschluss an die Realität erlaubten. Denn dafür war ich zu perfektionistisch, konnte mich nach dem schwersten Abschnitt der physischen und psychischen Lähmung, der körperlichen wie seelischen Schmerzen, des sich drehenden Gehirns um die immer wieder gleichen Sorgen, Nöte und Ängste, aber auch um die alleinige Leere, die wohl am schlimmsten war, wieder ein wenig zusammenreißen, um den Schein zu wahren.

Da nahm ich Termine wahr, um niemanden glauben zu lassen, dass ich wahrhaft depressiv sein konnte. Galt ich doch stets als der humorvolle, der überaus freudige und empathische junge Mann, der gelassen und ausgeglichen wirkte, stets zugewandt und emotional empfindsam. Ja, mit Anderen war das auch so. Mit mir konnte ich so aber nicht umgehen. Und das versteckte ich stets hinter einem Lächeln, hinter einer Fassade aus Zufriedenheit. Natürlich konnte man am Ende kaum noch unterscheiden, welches körperliche Gebrechen nun die Psyche beeinflusste - und gleichsam umgekehrt. Man war versunken im Meer des Überlebens, in welchem man sich von Eisscholle zu Holzresten über Wasser hielt, den Horizont in der Weite zwar immer sichtbar, aber auf absehbare Zeit keinen festen Halt, dafür Kälte und das Verfrorensein in den Gefühlen, in den Reaktionen, in den Gedanken, aber auch in der Freiheit des Körpers, in der Empfindung von Schmerz und Entspannung, die man nicht mehr steuern konnte, weil sie eingepresst waren in die Schwere von Ballast, der zweifelsohne nur bedingt realistisch, subjektiv aber erdrückend war.

Depression war bei mir - wie sicherlich bei vielen Anderen auch - nicht das Traurigsein, auf die man sie stets reduziert. Denn man wäre froh gewesen, diese Emotion überhaupt spüren zu können. Doch es war nichts, es war viel eher die Frage, die in unserer Gesellschaft tabuisiert wird: Der Wegbruch von Sinnhaftigkeit, von Beschäftigung, von Ablenkung, von Hobby, sozialen Strukturen, Aufgaben und Möglichkeiten, auf dieser Welt irgendwelche Spuren zu hinterlassen, um selbst aber auch Momente genießen zu können, um am Ende nicht sagen zu müssen, man habe überlebt, aber eben nicht gelebt, der ins Bodenlose hat fallen lassen und in den prekärsten Phasen auch darüber nachdenken lässt, ob man diesen luftleeren Raum länger hinnehmen will, denn niemand wusste, wie lange sie andauern würde, ob die Depression jemals enden würde.

Natürlich hätte man sich an die Hand nehmen lassen können, doch wer vor Statuen aus Stein steht, der weiß, wie schwer es ist, sie auch nur zentimeterweise zu verschieben. Über Jahre ein Durchhängen in der Depression, umrankt von hypomanen Episoden, in denen schlichtweg vergessen war, dass man doch gestern noch hätte vom Bildhauer begutachtet werden können, bearbeitet mit Hammer und Meißel. Da haben es auch Angehörige schwer, anzuschieben, vom Boden hoch zu holen, aus den Fluten des Nichts zu bergen. "Streng dich doch an!", solch vielleicht noch gut gemeinten, aber vollends wirkungslosen Aufforderungen sind in der wirklichen Depression so wertvoll wie der Sand in der Wüste, in der Oasen nur eine Fata Morgana sein dürften. Es gilt, mit Medikation und in den Augenblicken, in denen sich in der Höhle aus Bettdecke, Jalousien, abgedunkeltem Zimmer und der Starre des Blickes an das gewebte Muster des Kopfkissens ein Spalt auftut, psychotherapeutische Intervention in Anspruch zu nehmen, die mich glücklicherweise zurückbrachte von der allerschwersten in die schwere Depression, auf der man aber - im positiven Sinne - aufbauen konnte.

Denn wenn einmal ein Zipfel der Bettdecke entrissen werden kann und ein Lichtstrahl die Ruhe vor und nach dem Sturm durchbricht, dann sind es die Ressourcen, die den depressiven Menschen auf den Pfad führen können, der auch vor der Erkrankung durch das Leben getragen hatte. Bei mir war es nach Jahren der Glaube, ob nun an einen Gott oder viel eher, dass wir dieses eine Dasein im Hier und Jetzt doch irgendwie nutzen sollten, um für uns und unsere Nächsten etwas zu erreichen, etwas zum Guten zu wenden, etwas zu hinterlassen, was nicht Anerkennung bringt, wohl aber den Eindruck hinterlässt, dass man dagewesen ist - und nicht nur sein Bett, sondern mehr benutzt hat, um zu gestalten. Mit Musik beispielsweise. Sie war ein Mittel, das oft mehr bewirkte als eine Tablette. Denn selbst in Momenten, in denen das Eis nur angetaut war, konnte manch ein Klang erlösen von der Dicke des Eises, konnte mich begeistern für den Gang zum CD-Player, um die Lautstärke etwas zu erhöhen und nach Tagen oder Wochen wieder den Boden der Wohnung außerhalb von Schlafzimmer, Toilette und Küche zu betreten. Oder das Ehrenamt, die Selbsthilfe, die bestärkten, dass wir uns an die Hand nehmen können. Zwar zieht man sich als Gruppe nur schwer aus dem treibenden Schlamm, aber gemeinsam findet man eher diesen Ast, um sich daran vielleicht nacheinander hochziehen zu können.

Es gibt nicht die guten Ratschläge, denn ich selbst brauchte Kraft, um mir zu überlegen, welches meine Ankerpunkte sind, wenn ich wieder in die Weiten des Ozeans aus anfänglichen Tränen, späterer psychischer Dürre und viel später eigens aufgetragenem Zement wegzudriften drohe. Wenn gleichsam viele Ursachen in unserem Stoffwechsel, in der Biochemie des Gehirns zu suchen sind, haben auch wir in den allermeisten Fällen Einflüsse auf unsere Depression. Da sind es die Versäumnisse, auf Lebensumbrüche rechtzeitig und adäquat zu reagieren, möglicherweise, weil man sich unnötig, aber verständlicherweise geschämt hatte, weil man Stärke beweisen wollte und nicht zu denken vermochte, dass man einknicken könnte. Nicht aufgearbeitete Wunden, die zwar vernarbt sind, aber nie richtig behandelt wurden, vor allem im seelischen Sinne. Die fehlende Stresskompetenz, die Fähigkeit, mit selbstzerstörenden Botschaften des eigenen Ichs oder aber des neidischen Gegenübers so umzugehen, dass daraus keine Spiralen der Unendlichkeit werden, die den Sog eines Wirbelsturms nach unten bilden, immer weiter nach unten.

Vorbeugung ist durchaus möglich, sie wäre auch in meinem Fall verbesserungswürdig gewesen. Denn wir brauchen Pläne B für dieses Leben, wir benötigen die Bereitschaft, uns auf Ausweichrouten zu begeben, die im ersten Augenblick weniger ansprechend erscheinen mögen als der steile Weg nach oben, die Karriereleiter oder das Streben nach Vollkommenheit in Geld und dem Ansehen. Wir benötigen sinnstiftende Abwechslung, wir brauchen Hobbys und wirkliche Freunde, abseits von "Facebook", die eben wirklich nahbar sein können, vorbeikommen können, wenn es wirklich eng wird. Wir benötigen Bojen auf der rauen See, die nun mal unser Dasein abbildet, wir können uns nicht daran gewöhnen, dass alles stets problemlos laufen wird. Denn die Abstürze sind umso gefährlicher, je weniger man vorgesorgt hat. Glücklicherweise kann ich heute in der Rückschau auf manche kaum noch erträgliche Episode der Depression feststellen, dass ich zwar nur ein einziges Fangnetz eingebaut hatte, aber zumindest doch eines. Und das wünsche ich uns allen, aufrichtig und ehrlich auch denen, die heute noch fröhlich strahlen, die aber ebenso wie ich nicht wissen, was morgen kommen kann...

Dennis Riehle


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Was kann ICH tun?
Teil 5: Sweet Home Chemnitz

ZUSAMMENFASSUNG
   - Haßgewalt schadet langfristig auch dem "Tätervolk"
   - Man muß sich versöhnlich-selbstkritisch zeigen
   - Dann aber bekommt man die Welt auf die eigene Seite


Äh, heißt das Lied nicht "Sweet Home Alabama"? Ja, schon. Aber da ist eine wichtige Ähnlichkeit: Alabama ist in den USA dasselbe wie Chemnitz in Sachsen, Sachsen in Deutschland, die Männer bei den Geschlechtern und der Islam bei den Religionen. Soll heißen, sie müssen viel mehr tun gegen Gewalt, Hetze, Haßsprech und die Einteilung in "wir" und "die Untermenschen".

An der Stelle kann ich den Einwand fast hören:
"Ihr mit eurem Judenmord solltet dazu lieber die Fresse halten."
Nein, ihr haltet ihr jetzt die Fresse! Denn "wir mit unserem Judenmord" wissen ganz genau, wer für sowas hinterher die Rechnung bezahlt! Sollen noch in 50 Jahren eure unschuldigen Enkel verprügelt werden für "euer" Taliban-Kukluxklan-Pack? Wenn nein, dann achtet genau auf das Folgende.


Die Sucht nach einem klaren Feindbild, nach "Sündenbock" oder "Watschenmann" ist bei Menschen noch größer als die nach Frieden und Toleranz. Da kommt wie bestellt, wer Hetzjagden, Busengrabschen, öffentliche Enthauptungen oder ähnliches veranstaltet. (→1) Es bietet den Vorwand, die eigene Gewalt zu einer "guten Tat" oder "gerechtem Zorn" umzulügen oder zumindest als "hart, aber nötig".
Wir kennen die Reaktion: Das Klischee vom "Messermigranten" hat den rechten Rand schon weit überschritten. Was bei Tolerant-Bunten über "Ossis" und "alte weiße Männer" gesagt wird, ist jenseits aller berechtigten Kritik. Und die Religion, die in Deutschland das mit Abstand schlechteste Ansehen hat, sind nicht die Juden.

Wie da raus? Was können WIR tun, wenn "UNSERE Leute" Verbrechen begehen, die sich in einer vernetzt-mobilen Welt niemand leisten kann? (→2)
Man kann die 71,4 Prozent der Wahlstimmen erwähnen, die vor kurzem bei der sächsischen Landtagswahl links von der AfD landeten. Aber das ist langweilig. "Fakten gegen den Haß"? Auch wo sie geglaubt werden, ist doch wieder Trump auf Seite 1. Und zum "Tag der offenen Moschee" gehen nur die Leute, die eh schon eine positive Sicht haben. Die muß man nicht mehr überzeugen. Im Gegenteil, es besteht sogar die Gefahr, sie zu verekeln. (→3)

Dann lieber zwei Lieder als Vorbild nehmen.
Das erste ist "Männer" von Herbert Grönemeyer. Der Text (aus dem Jahr 1984) ist scheinbar gefällig, er nennt "typisch" männliche Dinge vom Raketenbau bis zum Herzinfarkt. Gute, schlechte, Stolz, Scham, gemischt. Männer haben ihre Schwächen, machen auch Fehler, sind aber unterm Strich doch sympathisch. "Männer sind auch Menschen". In dieser fairen Mischung läßt Mann sich dann doch seine Fehler vorhalten. Was im Lied fehlt, sind Aggression und Vorwürfe. Keine gegen Männer und erst recht keine gegen Frauen.
Noch der tanzbare Rhythmus dazu, und der Hit ist fertig. Ein schönes Lied.
Seine Wirkung ergibt sich erst vor dem Hintergrund bitterer Genderdebatten: Wo der Kampf "Schlampen gegen Schweine" nur noch abstoßend wirkt, zieht dieses Lied das Interesse auf sich. Aus Frauenkreisen kam Lob dafür, daß ein Mann so offen über männliche Schwächen und Fehler singt. Dadurch wurde mancher Graben im "Geschlechterkampf" zugeschüttet.
Andere - empörte - Kommentare zeigten deutlich: Da sahnt jemand die goldenen Schallplatten ab, obwohl von ihm eigentlich ein kollektivschuldig-demütiges "Fresse halten" erwartet wird. Ist das sogar ein passender Sinn für die Refrainzeile - "Männer haben's schwer, nehmen's leicht"? Noch im Jahr 2014 habe ich einen Zeitungsartikel gefunden, in dem sich jemand über den Text aufregte. (→4)

Der Text von "Sweet Home Alabama" (erschienen 1974) ist dagegen sehr mehrdeutig. Ist das "Buh-Buh-Buh" gleich nach "Governor" wirklich ein Protest gegen Regierungs-Rassismus? Ist tatsächlich ein kleines Lob für Martin Luther King eingebaut? (→5) Und heißt "the governor is true" jetzt "der Gouverneur hat recht" oder nur "wenigstens sagt er, was er wirklich denkt"? Genau läßt sich nur sagen, daß die Band "Lynyrd Skynyrd" das Lied als Antwort auf ein "Alabama-Bashing" von Neil Young meinte.
Aber all das ist eigentlich egal. Schon die ersten Töne der knackigen Gitarre lassen mal kurz die Welt vergessen. Spätestens wenn die ganze Disco die Zeile vom blauen Himmel mitsingt, ist der Gedanke an Rassismus weit weg. Das Lied bleibt länger im Kopf als alles, was man gegen Alabama sagen kann.

Ist es "Greenwashing" wie bei zweifelhaften Produkten, z.B. wenn ein Bier nur in der Werbung "den Regenwald rettet"? Schon wahr. Aber hier geht es nicht um Profit, sondern um Menschen. Um die 71,4-Prozent-Mehrheit, die heute in Alabama, Chemnitz, Dachau, Auschwitz, Falludscha, der Banlieue oder der Bronx wohnt. Oder gar - ohne eigenes Verschulden! - dort geboren wurde und den Ort lebenslänglich im Ausweis stehen hat. Sollen diese Menschen Angst haben müssen vor der harmlosen Smalltalkfrage "Wo kommst du her?" Auch sie haben das Recht und den Anspruch, Vorurteile gegen sie aus der Welt zu schaffen.
Beide Lieder haben viel getan, sowohl gegen die Fehler ihrer "eigenen Leute" als auch für deren Ansehen. Und beide Lieder sind deutlich populärer als alles, was von ihrer jeweiligen Gegenseite kam.
Alle anderen dürfen es sich gern zum Vorbild nehmen.

Wer das Thema weiter behandeln möchte - oder wer immer noch glaubt, mit "gerechtem Zorn" dem eigenen Anliegen zu helfen - darf sich die folgende Frage beantworten: Warum kriegen "wir mit unserem Judenmord" problemlos ein Einreisevisum nach Israel, während "andere mit ihrem ruhmreichen Friedenspropheten" dort bis zu vier Stunden an der Paßkontrolle aufgehalten werden?

Julian / Braunschweig


P.S.: Diese Folge ging um Haßgewalt und die letzte um Unterwerfungssysteme - kann ich über nichts anderes schreiben? Warum bin ich bei diesen Themen so übersensibel? Beides hat mit meinen Kinderängsten zu tun, die mir im politischen Klima ("Nazis" gegen "Volksverräter") wieder übel hochkommen.
Ich bin auf dem Schulhof ausgegrenzt worden, weil ich den "falschen" Käse auf dem Brot hatte. Und jene, die "mein Bestes wollten", wollten mich ihrem eigenen Lebenssystem unterwerfen, ohne sich zu fragen, ob ich dort hineinpasse.
Ich möchte beides nie wieder. Ich will nicht schon wieder ausgegrenzt werden. Nicht von rechts wegen meiner "Rasse", nicht von links wegen meiner "Identität". Ich möchte keine Meinung nachplappern, die mir als "allein-seligmachend", "politisch korrekt" oder "alternativlos" vorgesetzt wird.

Ich möchte, daß GERADE die Initiativen mit guter Absicht so offen über ihre Fehler reden wie Grönemeyers Männer. Daß sie Entschuldigung sagen können wie Neil Young.


↑1 Nicht damit trösten, daß sowas nur Minderheiten trifft! Global gesehen sind wir alle nur Minderheiten. Sogar die mächtigen "Amis" sind jenseits der Grenze nur noch "Gringos".

↑2 Selbstverständlich darf sich auch in einer nicht-vernetzt-mobilen Welt niemand solche Verbrechen leisten. Aber dort hat man eben keinen Multikulti-Kiez, wo die kleine Schwester des Täters plötzlich neben dem großen Bruder des Opfers wohnt.

↑3 Nämlich dann, wenn irgendwer mit dem bekannten Spiel "ich bin kein ..., aber ..." anfängt oder Haßgewalt zur Notwehr umlügt. Ich hab sowas von beiden Seiten gehört!

↑4 Dieser Jemand war allerdings männlich.

↑5 "Montgomery got the answer" nach dem letzten Refrain. Montgomery ist sowohl die Hauptstadt von Alabama als auch die Heimat von Martin Luther King, wo er sein Engagement begann.




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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26