Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Dezember 2009

Titelseite

Inhalt:
   - Änderungen in der Förderung
   - Selbsthilfe in der Diaspora - Gruppe Konstanz
   - Wahr oder falsch?
   - Robert Enke - eine Chance?
   - Robert Enke - unser Problem im Schlaglicht
   - Kurzmeldung: Coole Zahnspangen
   - Wahr oder falsch - die Auflösung

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ZITAT

"Wer Angst vorm Scheitern hat, ist in seinen Entscheidungen nicht frei"

Wolfgang Schäuble im Interview des "Stern" zum Amtsantritt als Finanzminister



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Änderungen in der Selbsthilfeförderung

Am 6.10.2009 wurde bundesweit ein neuer Förderleitfaden für das Selbsthilfefördergeld der Krankenkassen verabschiedet. Viel hat sich nicht geändert, allerdings fallen einige neue Punkte auf und mußten von der Selbsthilfeunterstützung (bei uns: Paritätischer und Selbsthilfe-Büro, beide Niedersachsen) erklärt werden.

Wichtigster Punkt ist die Transparenz der Gruppenfinanzen. So schreibt der Paritätische, es "müssen die Antragsteller ab dem Förderjahr 2010 in ihren Antragsunterlagen ihre Einnahmequellen offenlegen: genannt werden müssen u.a. öffentliche Zuschüsse, Zuschüsse von Sozialversicherungen, Spenden, Sponsorengelder, Mitgliedsbeiträge und selbst 'geldwerte Dienstleistungen von Kooperationspartnern'. Damit müssen sich die Antragsteller ausziehen bis aufs Hemd..." Für einen gemeinnützigen Verein ist solche Offenheit zwar selbstverständlich, für eine lockere Gruppe ohne große Bürokratie kann sie aber ungewohnt sein. Auch den kostenlos bereitgestellten Gruppenraum sollte man zur Sicherheit angeben.

Eine Neuregelung, die erst einmal Fragen aufwarf, war die "Benennung eines nur für Zwecke der Selbsthilfegruppe gesonderten Kontos". Soll jede Gruppe nun ein eigenes Konto einrichten?
Da diese Regel, wenn man sie streng auslegt, bei kleineren Förderbeträgen (und wer nur eine kleine Gruppenraummiete bezahlt, braucht ja nicht viel) verhältnismäßig hohe Kontoführungsgebühren verursachen würde, hat der intakt e.V. nach einem Bagatell-Grenzbetrag gefragt, unterhalb dessen kein eigenes Konto benötigt wird.
Womöglich weil viele Gruppen diese Frage gestellt haben, erhielt der Verein die Antwort: "In Niedersachsen einigten sich Krankenkassen und Selbsthilfevertretungen darauf, für 2010 kein eigenes Konto für Selbsthilfegruppen zur Fördervoraussetzung zu machen." Das bedeutet, die Regel gilt noch nicht. Wie es in anderen Bundesländern aussieht, bitte bei den dortigen Selbsthilfekontaktstellen erfragen.

Auf der anderen Seite hat ein Antragsteller Anspruch auf die Begründung einer Ablehnung.

Weitere Neuregelungen betreffen nur die überörtliche Selbsthilfeorganisationen und die Kontaktstellen. Im Anhang des Förderleitfadens sind im Verzeichnis der Krankheiten, zu denen Selbsthilfe gefördert wird, "Angststörungen" explizit im Unterpunkt "Psychische und Verhaltensstörungen" aufgeführt.

Und nun noch: Keine Angst vor den neuen Regeln. Beantragt euer Fördergeld, "und bekommt es auch".

Julian / Braunschweig


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Selbsthilfe in der Diaspora
Bericht der Selbsthilfegruppe Konstanz

Seit 2005 hat sich in Konstanz am Bodensee die Selbsthilfegruppe zu sozialen Ängsten etabliert. Anfangs nur mit vereinzelten und nach Bedarf gestalteten Gruppentreffen die nötigsten Fragen für Betroffene beantwortend, gehört sie heute zum lokalen Selbsthilfenetzwerk "kommit", das im Landkreis über 160 Gruppen zu den verschiedensten Gesundheitsthemen, Lebenskrisen oder Schicksalsschlägen vereint.

Nachdem in den ersten beiden Jahren die Nachfrage nach der Selbsthilfegruppe nur schleppend verlief und sich ein Großteil der anfragenden Menschen in der Kontaktstelle ohnehin nur ein Telefongespräch statt einem persönlichen Gruppenabend vorstellen konnte, führte der Gruppenleiter Dennis Riehle 2007 die Möglichkeit zum Vier-Augen-Gespräch ein, vor allem für diejenigen, die noch keine Erfahrungen mit Gruppen jeglicher Art, geschweige denn mit dem Austausch unter Betroffenen hatten. Die vierzehntägigen Gruppensitzungen waren somit meist nur ein Zusammenkommen der "Eingefleischten"; erst, wenn in den Einzelgesprächen die Angst vor dem Schritt in die Gruppe weitgehend gelindert werden konnte und sich die Betroffenen zutrauten, auch aktiv von ihren Problemen zu sprechen, stand die Einladung zum Gruppenabend.

Mit dieser Erfahrung wurde auch für alle Gruppenteilnehmer der Samstagabend, an dem sich die SHG zusammenfand, sehr viel einfacher. Denn kaum etwas war für den Gruppenleiter schwieriger, als aus schweigenden Lämmern aktuelle Gesprächsthemen zu entlocken. Nachdem sich die Gruppe mehrheitlich auf ein Konzept der zwei Hälften geeinigt hatte (die erste Hälfte der 90minütigen Gruppenstunde sollte für "theoretische" Arbeit verwendet werden, die zweite Hälfte jeweils zum Erfahrungsaustausch), Gruppenregeln akzeptiert wurden und auch in der Öffentlichkeit immer häufiger von der SHG zu sozialen Phobien berichtet wurde, nahm die Entwicklung der Gruppe Anfang 2008 einen immer kontinuierlicheren Verlauf.

Nach der Blitzlichtrunde am Anfang, die den neuen Mitgliedern die Möglichkeit zur Vorstellung und allen den Moment zum Darstellen der derzeitigen persönlichen Situation gab, kam es in der Regel immer zu einem schnellen Einstieg in das Tagesthema. In Absprache mit dem Gruppenleiter wurde für ein Vierteljahr im Voraus eine Liste für die Gruppentermine erstellt, denen jeweils ein übergeordnetes Thema zugeordnet wurde. Von "Therapiemöglichkeiten" über "Medikation" bis hin zum Umgang mit der Angst in der Öffentlichkeit - mit vereinter Hilfe war es immer möglich, Zeitungsartikel, Bücher oder Texte in Gruppenarbeit zu lesen, sie den anderen vorzustellen und somit die Übung für mehr Selbstbewusstsein vor der Gruppe mit dem Erlernen von Wissen über die eigene Erkrankung zu verbinden.

"Erstaunlicherweise drückte sich niemand davor, in der Gruppe auch mal ein Referat vorzubereiten und vorzutragen", berichtet Dennis Riehle. Viel eher konnte man den Eindruck gewinnen, "dass im Kreis von Gleichbetroffenen die Hemmschwelle geringer war, etwas zu präsentieren, sich darzustellen und seine Leistung vorzubringen", so der Gruppenleiter.

Das Klientel, das die Gruppe besuchte, reichte von Schülern, die aus Gründen wie Mobbing oder familiären Problemen den Mut zum eigenen Ich verloren hatten und sich kaum noch unter Freunde trauten oder vor der Klasse einen Vortrag zu halten, über Studenten, die es in der Anonymität der Universität nicht aushielten und vor jedem Kontakt zurückschreckten, aus Angst vor dem Fremden, bis hin zu Menschen in Frührente, die durch Krankheit, Einsamkeit oder Furcht das Haus nicht mehr als einmal in der Woche verließen.

Aber auch Angehörige fragten oft per Mail oder Telefon an, sei es, weil sie selbst Hilfe im Umgang mit betroffenen Kindern suchten oder stellvertretend für einen Sozialphobiker aus der Nachbarschaft Kontakt aufnahmen, weil dieser sich nicht traute, selbst Initiative zu ergreifen. Ohne Zweifel war jeder Schritt für die Schüchternen eine große Überwindung. Vom Anruf über ein Einzelgespräch bis zum Besuch der Gruppe vergingen oft Wochen und Monate.

Viele kamen immer wieder auch mit Fragen, wo sie denn noch andere Gleichgesinnte treffen könnten oder woher man weitere Informationen beziehen könne. "Zunächst fehlte mir eine überregionale Kompetenzstelle, die mich mit Material und Vernetzung hätte unterstützen können", so sagt Dennis Riehle. "Erst durch das Auffinden von intakt e.V. war ich erleichtert, endlich an weitere Betroffene heranzukommen". Im Laufe von 2008 entschied sich die Gruppe dann dafür, ihren Gruppenleiter stellvertretend als Mitglied zu "intakt e.V." zu entsenden. Der Norddeutsche Verband der Selbsthilfe für soziale Ängste und Schüchterne bekam somit ein neues Mitglied aus der Diaspora. "Weit entfernt am Bodensee übernahm Dennis Riehle das Engagement, auch im tiefen Süden ein Hilfsnetzwerk wie den intakt e.V. aufzubauen." Denn die soziale Phobie macht an den Grenzen zwischen Nord und Süd keinen Halt.

Heute kann die Gruppe regelmäßige Teilnehmer begrüßen. Dennis Riehle, bei dem neben einer Zwangsstörung und depressiven Episoden auch eine soziale und Agoraphobie erkannt wurde, hat mittlerweile die Gruppenarbeit ausgeweitet. Teilweise bis zu 80 Kilometer reisen Betroffene für die Gruppe an, denn zwischen den Ausläufern der Nordschweiz im Süden, dem Allgäu im Osten, der Schwäbischen Alb im Norden und dem Breisgau und Oberrhein im Westen findet sich kaum eine weitere Gruppe, die sich derart explizit mit dem Thema beschäftigt. "Mittlerweile reise ich auch zu Vorträgen, wenn mich Kliniken oder Veranstalter als Referenten einladen und gewinne dort neue Betroffene", so Dennis Riehle.
Die größte Arbeit liegt aber in der Koordinierung aller psychischen Gruppen im Selbsthilfenetzwerk, für die Riehle im Sprecherrat zuständig ist. "Und vor allem die Vorbereitungen der Gruppenstunden, das Telefonieren und Mailen sind zeitintensiv", gesteht der Gruppenleiter, aber "ich selbst weiß ja, wie wichtig es ist, Menschen zu haben, die einen verstehen und Ratschläge geben können. Daher mache ich meine Aufgabe mit viel Freude und Hingabe - und außerdem lenkt sie mich davon ab, dass ich selbst noch nicht ganz gesund bin".

Und so trifft sich die Gruppe bis heute am Konstanzer Landratsamt, um Fragen nach Selbstwertgefühl, Sozialkompetenz oder der richtigen Form der Psychotherapie gemeinsam zu besprechen. "Das Erstaunlichste ist immer die große Verwunderung der Betroffenen, wenn sie sehen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind, sondern in den Gruppenstunden ihre Spiegelbilder kennen lernen. Darum lohnt es sich auch weiterzumachen", stellt Riehle in seinem Fazit nach knapp vierjähriger Selbsthilfetätigkeit fest.

Autor: Dennis Riehle
Kontakt: Selbsthilfegruppe Soziale Phobie Konstanz


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Wahr oder falsch?

"Beim Radfahren kommt der Wind immer von vorn."
Kann man diesen Satz so stehenlassen?


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Robert Enke - eine Chance für die Gesellschaft?

Geradezu mit Verwunderung konnte man die letzten Wochen Berichterstattung in den Medien verfolgen. Wurde dort nicht tagein tagaus über den Tod eines an Depressivität leidenden Spitzensportlers berichtet, der sich das Leben nehmen wollte? Es überrascht, mit welcher Inbrunst die Bevölkerung an diesem Menschen Anteil nimmt. Einen Menschen, den die meisten von uns überhaupt nicht kannten, soweit diese nicht gerade Interesse an dem Fußball bekundeten oder aus Hannover (Gruß hierbei an die SHG Hannover ;-) ) stammen (hab ich ja auch mal gewohnt).
Da waren "gestandene Männer" bei der Trauerfeier in dem Stadion zu sehen, die ihre Tränen hemmungslos liefen ließen. Es waren Personen, die mich vom Aussehen her an die Sorte Menschen erinnern, die ich auch hier im Cottbuser Stadion sehe, dort aber eher dadurch negativ auffallen, dass sie über Ausländer, Andersdenkende oder Westdeutsche herziehen und ihren minderjährigen Söhnen erklären, dass sexuell Andersoriente kein Recht auf Leben hätten. Diese Leute vergießen ihre Tränen um einen Mann, der aufgebahrt wie ein König seinem Leben abgedankt hat und eine arme Witwe hinterlässt (wobei ich das nicht finanziell meinte), ein verwaistes Kind, welches wahrscheinlich niemals in den Genuss einer wichtigen Tochter-Vater-Beziehung kommt (und dadurch später vielleicht ihre Kinder schlägt). Er hinterlässt einen vielleicht in die Psychiatrie getriebenen Zugführer, der keine Chance hatte, den Zustand zu ändern, so schnell kann man einen Zug halt nicht stoppen, dieser war machtlos. Ich kann nur hoffen, dass die Adresse des "schuldigen Zugführers" nicht bekannt wird, weil die Gefahr, das sich bestimmte Hardcorefans sich an diesem rächen könnten, auch nicht von der Hand zu weisen ist.
Wäre es einem Menschen, der finanziell ausgesorgt hat, nicht möglich gewesen, sich Hilfe zu holen, sei es durch einen stationären Aufenthalt, eine Kurmaßnahme, eine Selbsthilfegruppe oder einen Privatpsychologen (z.B. seinem Vater, der selbst praktizierender Psychotherapeut ist)?

Was hingegen können die machen, die nicht so viel Glück des spielerischen Reichtums haben und in den Selbstmord getrieben wurden durch mangelnde finanzielle Möglichkeiten oder durch das aktive Mobbing der Gesellschaft, die nicht in eine Therapie endet, weil die Krankenkassen die notwendige Therapie aus Kostengründen ablehnt, und damit ein weiteres Mobbing erleben, welches der Tropfen sein könnte, der das Fass zum Überlaufen bringt?
In der Woche des Todes schlug ich die Zeitung auf und fand einen kleinen Bericht einer 70-jährigen Frau, die sich das Leben nahm, indem sie vor einen fahrenden Zug gesprungen ist. Der Bericht war so klein, das man ihn leicht überlesen könnte. Wäre dieser Sachverhalt nicht viel interessanter zu lesen? Nachdem man die paar Zeilen gelesen hat, wusste man NIX von der Person. Man wusste nur das Alter und den Zustand, dass der Zugführer einen psychischen Schaden erlebte. Also gab man der älteren Frau die Schuld an dem seelischen Zustand des Bahnbediensteten. Könnte es sich vielleicht hier nicht um eine motivierte Nachahmerin handeln, sondern eher um eine arme Rentnerin, die Deutschland aufgebaut hat, ihre 4 Kinder unter Schmerzen und Entzug von eigener Nahrung gerade so durchgebracht hat, immer mit dem Wunsch, niemals die Hilfe des Staates anzunehmen und sich schämte, Hilfe beim Sozialamt zu erfragen, und nun dran zerbricht, dass sie eine Rente hat, mit der sie gerade so ihre Miete und nötigsten Dinge erlauben kann und sehen muss, wie das einzige was sie hat, ihre Kinder sich nicht mehr bei ihr melden, weil sie selbst daran zerbrechen, das sie in die Arbeitslosigkeit fallen und sie ihre eigenen Familien nicht mehr ernähren können? Ist das nicht ungerecht, das Menschen ungleich behandelt werden? Ist es nicht gar ein klarer Verfassungsbruch, das Menschen unterschiedlich behandelt werden? Wären das nicht Punkte, von denen es wert gewesen zu wären, Zeitungsberichte zu lesen, als von einem finanziell ausgesorgten Mann, der alle Möglichkeiten der Heilung gehabt hätte, sich aber bewusst für den Weg entschieden hatte? Wäre die alte Frau es nicht wert gewesen, wie eine Königin aufgebahrt zu werden, als ein Fußballspieler?

Trotz allem - es bietet der Gesellschaft eine Chance, die wir nun, als sozialphobische und schüchterne Menschen ergreifen sollten. Spätestens seit Emmerichs imposanten Kinospektakel "2012" ist uns klar, dass die Tage unseres schwachen Bewusstseins gezählt sind. Demnächst wird eine Änderung größeren Ausmaßes stattfinden, auf den DU dich freuen darfst, denn die Rettung naht: Der Mensch wird sich immer mehr bewusst werden, dass wir nicht alleine auf der Welt existieren und nur in der Gemeinschaft unseren Zweck erfüllen. Die Wirklichkeit ist die, dass wir alle derzeit miteinander verbunden sind, aber wir sehen eine Welt der Trennung.

Bis dahin lasse dir deine Welt von den Schatten um dich herum nicht schlechter machen als sie ist, sie sind nur die Form deiner selbst projezierten Angst. Selbstmord ist keine Lösung, dies zu ändern, da sich der Zustand nicht ändert. Du kannst auch die Gesellschaft kaum verändern, aber du kannst dich verändern und deine Sicht der Welt. Diese kannst du wandeln und ihre tatsächliche Schönheit schauen.

Ingo aus Cottbus


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Robert Enke - ein verstecktes Problem im Schlaglicht

Die Berichterstattung über Robert Enkes Tod zeigte, wie groß das Problem, das wir bearbeiten, in der unsichtbaren Wirklichkeit ist.
Auch wenn Enke depressiv und nicht sozialphobisch war (wobei das letztere das erste nach sich ziehen kann), und auch wenn Enkes Depression dort als hirnchemische Krankheit beschrieben wird: Es passt einiges in der Berichterstattung gut auch zu uns. Ich möchte daher den Spiegel-Artikel "Die Angst vor dem Leben - Er hielt es nicht mehr aus" (Ausg. 47 vom 16.11.) zitieren und meine Gedanken/Erfahrungen ergänzen. Alle kursiven Sätze sind Zitate aus dem Artikel.

Da ist zunächst einmal die Verbreitung der Krankheit: "4-5% aller Menschen weltweit" werden angegeben. "In Europa ist Depression tödlicher als Aids, Drogenmißbrauch und Verkehrsunfälle zusammen. Keine Volkskrankheit verursacht laut WHO einen so hohen Leidensdruck und ähnlich hohe Kosten wie die Depression." Klar: "Gemessen daran, hört man nicht viel davon." Das liegt m.E. auch daran, daß Betroffene ihr Problem verstecken. Diese Verheimlichung - das sage ich in meinen Vorträgen gerne - kann sogar die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten blockieren. Es kann so weit gehen, daß der Selbstmordplan auch Helfern nicht auffällt, wie Psychiater Holsboer (Therapeut des ebefalls depressiven Fußballers Sebastian Deisler) erklärte: "Der Patient wirkt auf einmal stabiler, aber in Wahrheit ist er nur erleichtert, weil es seinen Entschluss gefaßt hat." Das ist verdammt hart, aber scheinbar verbreitet, denn, so Holsboer, "ich möchte den Psychiater sehen, dem das noch nicht passiert ist". Ist das so ähnlich wie in unseren Gruppen die Leute, die plötzlich und unerwartet nicht mehr zu den Treffen kommen" Auch wenn die sich nicht umbringen, aber den Kontakt völlig abreißen lassen.

Die Angst, "entdeckt" zu werden, führt zum Dilemma, in die scheinbare Wahl zwischen Ende mit Schrecken und Schrecken ohne Ende: "Er war immer wieder kurz vor diesem Schritt, sich doch darauf einzulassen, sich einweisen zu lassen, dann sagte er wieder: Wenn ich in der psychiatrischen Klinik behandelt werde, dann ist es aus mit meinem Fußball. Das ist das Einzige, was ich kann und will und gerne mache."
Scheinbare Lösung: "Einerseits war ihm klar, dass er krank ist, andererseits war er geübt darin, so zu tun, als hätte er diese Krankheit nicht." Ich denke bei dem Satz an die Szene, die in jedem guten Geiselnahmekrimi zu sehen ist: Der Geiselnehmer ist im Haus seines Opfers, da klingelt es. "Keinen Ton! Niemand ist da!" "Das geht nicht, das ist der ..., der kommt jeden Tag um diese Zeit." "Scheiße, na gut, dann geh zur Tür und tu so, als wär nichts Wimmel ihn ab. Und keine Tricks!"

Schließlich kennen auch wir die "katastrophisierende Fehlinterpretation": Im Artikel wird diskutiert, ob eine Entscheidung des Bundestrainers, Enke nicht für zwei Spiele aufzustellen, von diesem "als Beweis dafür, Versager auf ganzer Linie zu sein", mißverstanden wurde.

Trotz all dieser schweren Fakten sehe ich auch ein mutmachendes Detail: Trotz aller Probleme ist Arbeitsleistung möglich. "Es gibt keinen härteren Job im Fußball, und Enke schaffte ihn." Nun ja, dieser doppelte Kampf muß verdammt schwer für ihn gewesen sein, und der Berufserfolg wohl ein Mittel, die Probleme dahinter zu verstecken - aber er hätte es zur Lösung des Lebensproblems einsetzen können. Z.B. das Geld verdienen, um nach oder neben dem Fußball diskret eine Therapie bezahlen zu können.
In seinem Fall wäre dort - wie bei "uns" auch so oft - zwar wieder ein Hindernis gewesen: Kann man länger von einem Job wie dem Profifußball pausieren, ohne den Anschluß zu verlieren? Wie erklärt man es der Öffentlichkeit, die bei ihm ja aus mehr bestand als dem Freundes- und Kollegenkreis?
Aber auch in solch einem Fall wäre zumindest eine erste "heimliche" Kontaktaufnahme zu einer anonymen Beratungsstelle möglich gewesen.

Auch wenn der Artikel mich bisher unglaubliche Dinge hat glauben lassen, eins glaube ich weiterhin nicht: daß jemand, der Leistung bringt (und es als Nationaltorwart nicht einmal kleinreden kann, wie "wir" es so "gern" tun!), nicht auch die Leistung zur Problemlösung hätte aufbringen können.
Auch in unglücklichen Zeiten können wir das Fundament für bessere Tage legen. Es lohnt sich immer, die eigenen Stärken genauer anzusehen, und im Zweifelsfall etwas zu warten, bis einem doch noch etwas einfällt.

Julian / Braunschweig


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Kurzmeldung: Coole Zahnspangen

Wie sich Gesellschaftsnormen ändern, umdrehen und anpassen können (soll heißen: änderbar, umdrehbar und anpaßbar sind), wenn die Mehrheit es so will - eben wer im Moment die Mehrheit ist - zeigt dieses Zitat aus dem "Reutlinger Generalanzeiger":
"Manche Leute finden Zahnspangen toll, andere hassen sie. Doris Schmidts - die 'Miss Germany 2009' - hätte als Mädchen gern eine getragen. Fast jeder in der Schule habe damals eine Zahnspange gehabt. 'Das war vielleicht nicht unbedingt schön - aber cool', erzählte die 21-Jährige aus Karlsruhe in Baden-Württemberg."


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Wahr oder falsch - die Auflösung:

Deim Wort "immer" ist Vorsicht angebracht. Dann handelt es sich oft (aber nicht "immer") um nicht wirklich überprüfte Eindrücke, die nicht wirklich stimmen müssen.
Beim Radfahren paßt es aber doch irgendwie: Hier geht es eher darum, daß der Wind als Hindernis wahrgenommen wird. Auch Seitenwind kann ein solches sein. Und es hängt von der Geschwindigkeit ab: Ein Radfahrer, der 20 km/h fährt, fährt einem Rückenwind mit nur 10 km/h "hinten auf", was damit eigentlich auch Gegenwind ist.


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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26