Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie | |||||||||
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Rundbrief April 2021
Zurück zur Rundbrief-Übersicht Fotoaktion der Kontaktstelle KISS Salzgitter, als Werbung für die Selbsthilfe
Seelische Gesundheit per Videochat: Prävention in Zeiten der Pandemie
Viele ehrenamtliche Initiativen haben es während des Lockdowns nicht leicht. Besonders dann, wenn sie im Dienste am Menschen unterwegs sind, bleibt ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit wegen der Kontaktbeschränkungen auf der Strecke. Auch das Präventionsprojekt "andersnormal." im Landkreis Konstanz stand vor der Herausforderung, wie es seine Klientel während der Pandemie erreichen kann. Denn die Aufklärung von Schulklassen, FSJ-Gruppen und Auszubildenden in Sachen seelischer Gesundheit lebte bislang insbesondere von der persönlichen Ansprache der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nicht zuletzt vom Kennenlernen der freiwillig tätigen Erfahrungsexpertinnen und Erfahrungsexperten mit eigener Leidensgeschichte profitieren sollten. Doch die Technik macht heute Vieles möglich - und sie zeigt, dass man in Krisen auf profunde Alternativen zurückgreifen kann. So bieten die Macher von "andersnormal." ihre Projekttage derzeit als Videokonferenz an - und gestalten über diesen Weg einige abwechslungsreiche Stunden für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die offenkundig bereit sind, selbst über solch ein Medium einen Erkenntnisgewinn mitzunehmen. Die Konfrontation mit dem oftmals noch immer tabuisierten Thema der psychischen Erkrankung kann somit auch über Tablet und Laptop gelingen. Diese Erfahrung macht unter anderem Caroline Renz vom Zentrum für Psychiatrie Reichenau, die als hauptamtliche Koordinatorin des Projekts bereits mehrere Gruppen erfolgreich über die digitale VerbindunWer nicht zu sündigen wagt, begeht die grösste Sünde.g mit ihrem Anliegen erreicht hat, die jungen Menschen für deren eigene und die seelische Gesundheit von Mitschülern zu sensibilisieren: "Natürlich ist das etwas völlig Anderes, als den Teilnehmerinnen und Teilnehmern persönlich in die Augen schauen zu können. Aber besondere Situationen erfordern Kreativität - und wir wollen unsere Botschaft auch in Zeiten von Covid-19 nicht verstummen lassen. Unser Ansatz, mit spielerischen, partizipierenden und lebensnahen Elementen einen Projekttag zu gestalten und dabei weder Vorträge zu halten, noch belehrend oder gar mit erhobenem Zeigefinger vorzugehen, ist auch virtuell recht praktikabel", so Renz. Dennis Riehle, der als ehrenamtlicher Erfahrungsexperte mit eigener Erkrankung praxisnah über den alltäglichen Umgang mit einer psychischen Störung berichten kann, zweifelte zunächst an der Umsetzbarkeit der Projekttage über den Videochat: "Für mich wirkte es befremdlich, über mehrere Stunden auf den Bildschirm zu starren und mit einer ganzen Klasse über ein Fenster des Webs zu kommunizieren. Allerdings habe ich mich davon überzeugen können, dass das Format unserer Projekttage tatsächlich auf elektronischem Wege an die Jugendlichen herangetragen werden kann. Zwar sehne ich mich danach, mit den Schülern endlich wieder von Angesicht zu Angesicht sprechen zu können; für den Moment ist es aber die richtige Lösung, auf neue Methoden zu setzen. Immerhin ist unsere Arbeit gerade dieser Tage wichtiger denn je, weil wir unsere jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch Prävention in ihrer Resilienz stärken wollen. Sie kann dabei helfen, sich in herausfordernden Zeiten des wechselnden Fernunterrichts, der ausbleibenden sozialen Kontakte und eingeschränkter Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung vor psychischer Ermüdung besser zu schützen", erklärt Riehle. Und auch wenn die Kapazitäten des Projektteams begrenzt sind, können sich dennoch interessierte Lehrerinnen und Lehrer, Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen sowie Betreuerinnen und Betreuer von Klassen, FSJ-Gruppen oder Auszubildenden beim Projekt "andersnormal." melden, um einen digitalen Projekttag zu terminieren. "Selbstverständlich nehmen wir auch Voranmeldungen entgegen, für die Zeit nach den strengen Kontaktbeschränkungen - wenn also ein reales Treffen des Projektteams mit den jungen Menschen wieder möglich ist", so Caroline Renz. Hintergrund: Das Präventionsprojekt im Landkreis Konstanz existiert seit 2010 und setzt sich seither für Information, Aufklärung und Entstigmatisierung psychisch Erkrankter ein. Es richtet sich vornehmlich an Schulklassen, FSJ-Gruppen und Auszubildende, allerdings werden auch Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Berufsgruppen angesprochen, in deren Arbeitsfeld Anknüpfungspunkte zum Umgang mit seelisch erkrankten Personen bestehen. Das von Haupt- und Ehrenamtlichen gemeinsam geführte Projekt vermittelt seine Ziele in mehrstündigen Veranstaltungen im ZfP Reichenau oder in der jeweiligen Schule selbst, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrer Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit über Betroffene psychischer Erkrankung zu sensibilisieren, mit teilhabender Edukation Vorurteile durch entsprechendes Wissen zu ersetzen und Feingefühl für Anzeichen seelischer Belastung bei sich und anderen Menschen im persönlichen Umfeld zu entwickeln. Der nach einem locker gehaltenen Rahmen und wiedererkennbarer Struktur ablaufende Projekttag beinhaltet eine selbstreflektierende Herangehensweise an die Thematik, altersentsprechende Gruppenarbeit und die Begegnung mit einem von einer psychischen Krankheit betroffenen Person, die den Teilnehmern für alle Fragen zur seelischen Gesundheit offensteht. Neben den ehrenamtlichen Erfahrungsexperten aus eigener Betroffenheit gehören Sozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter sowie psychologische Fachkräfte den Projektteams an. Alle Engagierten bilden sich durch regelmäßige Schulungen fort. Präventionsprojekt andersnormal. Dennis Riehle - Erfahrungsexperte ZfP Reichenau, Feursteinstr. 55, 78479 Reichenau Tel.: 07531/977-580 Mail: info(ä)andersnormal-konstanz.de privat: Martin-Schleyer-Str. 27 | 78465 Konstanz Besuchen Sie uns auf www.andersnormal-konstanz.de! Einladung zur Teilnahme an zwei Studien 1. Sehr geehrte Damen und Herren, die derzeitige Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen haben das Leben und die Gewohnheiten vieler Menschen nachhaltig verändert. Für Menschen mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung, die häufig Teil der Risikogruppe sind, ergeben sich dadurch ganz neue Herausforderungen und Barrieren. Die Studie "Gesundheit und Gesundheitskompetenz von Menschen mit Beeinträchtigung in Deutschland in Zeiten der Corona-Pandemie" (COVID-HL-HeHLDiCo) unter der Leitung verschiedener Hochschulen (Hochschule Fulda, Universität Bielefeld, Apollon Hochschule Bremen) möchte Menschen mit einer Beeinträchtigung zur Gesundheit und Gesundheitskompetenz während der Corona-Pandemie online befragen (Zeitraum: März-April 2021). Das Projekt erfasst die gesundheitliche Lage, wahrgenommene Herausforderungen und Barrieren und die Gesundheitskompetenz von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen während der Corona-Pandemie. Folgende Ziele werden durch die Studie verfolgt: 1. Die gesundheitliche Lage von Menschen mit Beeinträchtigung wird erhoben, 2. Herausforderungen und Barrieren während der Corona-Pandemie werden erfragt, sowie 3. Die Gesundheitskompetenz und die Suche nach gesundheitsbezogenen Informationen werden erfasst. Durch die Befragung ist es möglich, Bedarfe abzuleiten, die in Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheit und Gesundheitskompetenz in Krisenzeiten münden. Gerne möchten wir Mitglieder von Selbsthilfegruppen zur Teilnahme an einer deutschlandweiten Online-Befragung einladen. Ein positives Votum der Ethikkommission an der Hochschule Fulda liegt bereits vor. Hier unser Link zur Studie: https://ww2.unipark.de/uc/HeHLDiCo/ oder in leichter Sprache: https://ww2.unipark.de/uc/HeHLDiCo_LS/ Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden für ihre Unterstützung bei der Online-Befragung. Für Rückfragen stehen wir Ihnen gerne jederzeit zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen, Natalie Steeb und Lisa Kogel (Ansprechpersonen) Hochschule Fulda (Fachbereich Pflege und Gesundheit) Public Health Zentrum Fulda (PHZF) E-Mail: studie_HeHLDiCo(ä)gmx.de Telefon: 0661/96406410 2. Sehr geehrte Damen und Herren, In einer Studie der Universität Bonn untersuchen wir, wie die Übernahme von Aufgaben in der Familie in der Kindheit/Jugend die spätere Entwicklung beeinflusst. Die Onlinestudie dauert ca. 15 Minuten und kann auf dem PC, Smartphone oder Tablet bearbeitet werden. Wer kann teilnehmen? Jede Person ab 18 Jahren! Besonders interessiert sind wir an Personen, die in ihrer Kindheit/Jugend in ihrer Familie besonderen Herausforderungen ausgesetzt waren: z.B. einer psychischen oder körperlichen Erkrankung eines Elternteils, einer Trennung der Eltern, einer Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds, einer Substanzabhängigkeit eines Elternteil etc. Haben Sie in Ihrer Kindheit oder Jugend Familienangehörige gepflegt? Sich um den Haushalt gekümmert? Ihre Geschwister oft betreut? Für Angehörige gesorgt, die eine psychische oder körperliche Erkrankung hatten oder unter einer Substanzabhängigkeit litten? Dann suchen wir Sie! Was passiert mit meinen Daten? Alle Ihre Antworten sind anonym und werden nur zu Forschungszwecken verwendet. Sie werden nicht an Dritte weitergegeben. Die Teilnahme ist freiwillig. Der Fragebogen ist unter dem folgenden Link zu finden: https://www.soscisurvey.de/AufgabenUndEntwicklung/ Für Ihre Unterstützung wären wir Ihnen sehr dankbar! Kontakt: Prof. Dr. Rainer Banse & Charis Neuerburg, M. Sc., Institut für Psychologie, Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Kaiser-Karl-Ring 9, 53111 Bonn E-Mail: neuerburg(ä)uni-bonn.de www.psychologie.uni-bonn.de "Schon wieder bloß der Anrufbeantworter!"
Wie oft erlebe ich, daß auf meinem Anrufbeantworten (im folgenden wie überall mit "AB" abgekürzt) ein Anruf eingeht, aber keine Nachricht drauf gesprochen wurde. Das ist traurig - und eigentlich auch widersinnig. Denn die Leute rufen doch an, um ihr Anliegen loszuwerden. Warum sagen so viele Leute trotzdem nichts? Einen Satz höre ich oft: "Ich spreche nicht auf einen AB." Die Tonart dieses Satzes ist oft deutlich-bestimmt, manchmal sogar aggressiv-patzig. Wieso eigentlich so aggressiv? Was erwarten die Leute überhaupt? Daß die anderen beim ersten Klingelton das heiße Bügeleisen fallenlassen oder mit "Schleifspur" am Hintern vom Klo aufspringen? (→1) Für wen hältst du dich, daß du sowas erwartest? Na gut, das hier ist ein freies Land, da hast du das Recht, alles von anderen zu erwarten. Bloß diese anderen haben eben die selbe Freiheit. Wie bekommst du deinen Wunsch erfüllt, wenn die anderen genauso pampig zurückblaffen: "Wer von mir was will, spricht es auch auf meinen AB"? Aber wir wissen: was mit der großen Moralkeule durch-gedrückt werden soll, ist oft die Fassade für tiefsitzende Ängste und "peinliche" Bedürfnisse. Die akzeptiert werden können, sobald sie offen und freundlich geäußert werden. Also formulieren wir den oberen Absatz mal freundlich: "Ich muß einfach mit echten Menschen reden." "Ich brauch einfach eine Rückmeldung, daß meine Botschaft angekommen ist." Verständlich. Aber erstens liegt es eben allein in der Macht der anderen, wann sie dir diese Rückmeldung geben. Alle echten Menschen haben irgendwann mal wichtigere Termine und irgendwann mal Pause. Zweitens kann der Rückruf mit dieser Rückmeldung schneller kommen als du einen neuen Anruf-Versuch machst. Schon sobald das Bügeleisen kalt und der Hintern abgeputzt ist. Es existieren noch andere Begründungen, weshalb Leute nicht auf einen AB sprechen: "Ich möchte meine Stimme nicht aufgezeichnet hinterlassen." Das klingt zwar seltsam bei Leuten, denen der Datenstriptease am Smartphone nichts ausmacht. Aber erstens sind das nicht alle und zweitens ist ein Dokument der eigenen Stimme noch "gruseliger" (→2). Aber so oder so ist es eine Vertrauenssache: Wenn du den anderen mißtraust, warum rufst du sie an? Was gibt dir die Sicherheit, daß das Telefongespräch nicht heimlich aufgezeichnet wird? Wenn es aber eher darum geht, kein Tondokument mit "Ääääh" und Aussetzern zu hinterlassen, ist der selbe Text per Mail besser versandt. "Mir fehlen die Worte, wenn ich so rumsbums nach dem Piepton was sagen muß." Stimmt schon, zum AB muß man anders reden als mit echten Menschen. Da ist keine Zeit für Warmwerde-Blabla. Keine Zeit, um minutenlang das "Scheiß-Wetter" (→3) zu beklagen und dann ganz langsam das Thema anzudeuten, "also, eigentlich rufe ich an wegen, du kennst ja das, und dazu frag ich ...". Nein, beim AB springt nach dem Piepton technisch-mitleidlos die Aufzeichnung an, da muß das Anliegen kurz und direkt raus. Bevor der nächste Piep das Ende der Aufzeichnung verkündet. Die eine Möglichkeit ist dann die Kurz-Ansage: "Hallo, hier ist ..., Telefonnummer ..., er geht um ..., ruf zurück wenn du da bist." Zweite Möglichkeit: 5 Minuten später nochmal anrufen. In der Zeit läßt sich das Thema kurz auf den Punkt bringen, z.B. per Spickzettel mit Stichworten. Oder einen kurzen Text schreiben zum Vorlesen. Eben entwerfen, was als AB-Nachricht sagbar ist. "Am Telefon einen Text vorlesen?! Wie bescheuert!" Es ist tatsächlich seltsam für Leute, die nicht im Callcenter irgendwelche Werbetexte ins Telefon leiern. Aber es ist immer noch besser als entmutigt aufzulegen oder beleidigt rumzumeckern, daß niemand rangeht. "Das Gesprächsthema ist ein Angstauslöser." "Ich trau mich schon den Anruf nicht." Wenn die Angst befiehlt, nicht anzurufen, kann der AB tatsächlich ihr heimlicher Verbündeter sein. Er schafft die beliebte Entschuldigung "ich habs ja versucht, aber es lag nicht an mir". Der gute Vorsatz, später nochmal anzurufen, löst erneut die vielen Ängste aus und wird genau deswegen aufgeschoben. Oder die Vermutung, daß "dann wohl wieder der AB rangeht", schafft zuviele Bedenken, an denen der 2. Versuch scheitert. Dann ist wichtig, zu fragen: Kann ich meine Botschaft auch auf andere Art vermitteln? Das Telefon ist nicht die einzige Möglichkeit, Brief oder Mail gehen auch, wie ist dort die Angst? Sie lassen sich einfacher versenden, schneller als die Angst es verhindern kann (→4). Insgesamt gilt für die AB-Nachricht also das selbe wie fürs Kämpfen: Wer was auf den AB draufspricht, kann verlieren. Wer nichts draufspricht, hat schon verloren. Julian / Braunschweig
Offener Brief an Dr. Angela Merkel
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister, schon seit über einem Jahr dominiert das Thema "Corona" nicht nur die Schlagzeilen, sondern bestimmt unser alltägliches Leben ganz erheblich mit. Wir alle sind in dieser Zeit aufgerufen, unser Miteinander stark einzuschränken. Und auch ich selbst gehöre zu denjenigen Bundesbürgern, die im Lockdown aus tiefster Überzeugung Kontaktbeschränkungen einhalten, Shoppen vermeiden und sich größtenteils mit sich selbst beschäftigen. Ja, mir gelingt das gut, aber ich weiß, dass es vielen Menschen anders geht: Die soziale Isolation wird aus meiner Überzeugung zu den größten Folgeschäden der Pandemie beitragen - die langfristigen Auswirkungen auf die seelische Gesundheit. Durch meine ehrenamtliche Selbsthilfearbeit und mein Wirken als freiwilliger Berater in psychosozialen Fragen erlebe ich seit Januar 2021 ein beständiges Wachstum bei den mich täglich erreichenden Hilfegesuchen von Personen, die oft zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer psychischen Krise konfrontiert sind. Ich erlebe dabei Schicksale, die auch mich an den Rand meiner Fähigkeiten bringen. Und während wir vor der Überlastung von Intensivstationen warnen, muss ich auf die herannahende Welle hinweisen, die unsere psychiatrischen Krankenhäuser mit ein wenig Abstand zur akuten Pandemie mit voller Wucht treffen wird. Im Augenblick wird Deutschland auf Sicht regiert, weil die Politik auf Entwicklungen eingehen muss, die sich täglich ändern können. Prognosen sind schwierig und haben sich nicht selten als falsch erwiesen. Daher verstehe ich durchaus, dass die Bundesregierung und die Länder damit befasst sind, die momentanen Auswirkungen der Pandemie im Griff zu behalten. Und in diesen Wochen merken wir, dass auch diese Aufgabe kaum noch gelingt. Daher will ich auch gar nicht verurteilen, denn ich möchte selbst nicht in der Position stehen, die Sie momentan ausfüllen. Durch die pluralistische Meinungsvielfalt im Land, die sich nicht nur in den demoskopischen Erhebungen langsam wandelt und zu einer spürbaren "Wechselstimmung" beiträgt (wie Ministerpräsident Söder es trefflich erfasst hat), können Sie es niemals allen recht machen. Daher halte ich es für völlig richtig, dass Sie sich an den wissenschaftlichen Empfehlungen orientieren, denen die Mehrheit der Bevölkerung noch immer das größte Vertrauen zu schenken scheint. Und natürlich weiß ich auch darum, dass am Ende einer Legislaturperiode weniger der nachhaltige Blick nach vorne im Mittelpunkt des politischen Handelns steht, sondern vielmehr darum gerungen wird, in der Momentaufnahme zum Wahltag die größtmögliche Zustimmung für die gegenwärtige Politik einzuheimsen. Trotzdem möchte ich heute einen eindringlichen Appell an Sie richten, weil ich in meinem kleinen Büro wahrnehmen kann, dass auf uns ein Tsunami zurast, der weit über die wirtschaftlichen Konsequenzen des nun schon lange andauernden Shutdowns hinausgehen wird. Denn seelische Erkrankung ist eine langwierige Beeinträchtigung, die nicht nur den Arbeitsmarkt hart trifft, sondern vor allem zu persönlichen Leidensgeschichten führt. Ich werde seit Wochen mit etwa acht bis fünfzehn Mails und Anrufen pro Tag um Hilfe gebeten, weil sich Menschen von den Eckpfeilern unseres Gesundheits- und Sozialwesens unzureichend getragen sehen. Ich bin deshalb dankbar darüber, dass ich mich im Verbund mit vielen anderen Ehrenamtlichen weiß, die im Notfall eine erste Auskunft geben können. Nicht umsonst werden die niederschwelligen Angebote - wie Selbsthilfe, Psychosoziale Beratungsangebote oder IBB-Stellen - als Dritte Säule unseres Versorgungssystems bezeichnet. Doch wir können mit unseren Maßnahmen, die uns rechtlich wie fachlich - glücklicherweise - beschränken, nicht das leisten, was Professionelle geben können. Daher muss ich mir in dieser Mail Luft machen, weil ich nicht nachvollziehen kann, wie man über Dekaden sehenden Auges ins Unglück rennen konnte. Denn schließlich hinkt die psychologisch-psychotherapeutische Versorgung in Deutschland nicht erst seit gestern. Und durch die Pandemie müssen wir damit rechnen, dass eine kaum zu bewältigende Zahl an Menschen hinzukommen wird, die auf seelische Unterstützung angewiesen ist. Besonders, wenn wir noch nie in Berührung mit einer psychischen Erkrankung standen, brauchen wir Orientierung und Wegweisung. Natürlich können hierbei auch jene Angebote helfen, die von einer Unmenge engagierter Bürger getragen werden. Letztlich warne ich aber auch davor, dass - nicht nur in der Pflegebranche - ein BurnOut der Helfenden droht. Abgesehen davon, dass gerade bei Jugendlichen die Anzeichen steigen, wonach sie durch ausbleibende Bildungschancen massiv in ihrem Selbstwert zurückgedrängt werden, Furcht vor der beruflichen und privaten Zukunft haben oder aufgrund der beschränkten Kontakte zu Freunden ganz besonders leiden, sind wir in der breiten Masse nicht vor den seelischen Herausforderungen gefeit, die wir in der täglichen Berichterstattung der Corona-Zahlen bislang überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Wir haben es über Jahrzehnte versäumt, eine der Gegenwart angemessene Bedarfsplanung an Psychotherapie-Plätzen in unserem Land auf die Beine zu stellen. Die teilweise höchst veralteten Erhebungen können keinesfalls eine adäquate Auskunft darüber geben, welch psychologischen Unterstützungsbedarf die Deutschen im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben werden. Die gutgemeinten Reformen in der Beschaffung freier Therapieplätze durch die "Terminservicestellen" hatten auf den ersten Blick eine spürbare Entlastung mit sich gebracht. Schon seit langem wird aber deutlich, dass auch sie die grundlegenden Versäumnisse aus der Vergangenheit nicht auffangen können. Rund 80 Prozent der bei mir eingehenden Anfragen lauten ähnlich: Patienten wenden sich an die Hotline der "Kassenärztlichen Vereinigung", erhalten einen Termin zur "Psychotherapeutischen Sprechstunde", in der ihnen die Notwendigkeit einer (akuten) Psychotherapie bestätigt wird, ehe sie dann am Telefon erneut zu hören bekommen, dass zur Inanspruchnahme einer Therapie derzeit leider kein freier Platz vermittelt werden kann. Schlussendlich stehen die Menschen dann wieder an ihrem Ausgangspunkt - mit dem Unterschied, dass sie nun um eine diagnostizierte Depression, phobische Störung, psychosomatische Erkrankung oder Psychose (allesamt Krankheitsbilder, die mehr oder weniger direkt im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen stehen) wissen, ohne jegliche adäquate Behandlungsmöglichkeit. Eigentlich hätten Zustände, wonach Patienten nicht einmal mehr auf Wartelisten bei Psychotherapeuten aufgenommen werden, mit den Anstrengungen der Bundesregierung aus den letzten Jahren gar nicht mehr existieren dürfen. Doch die Realität ist ausgerechnet in Zeiten einer internationalen Katastrophe, in der immer mehr Menschen den seelischen Halt verlieren, eine völlig andere: Bei den mir zugesandten Mails konnte ich eine mittlere Wartezeit von acht Monaten bis zu einem Jahr ermitteln, die es dauert, bis Patienten die Aussicht auf einen Platz beim Psychotherapeuten erhalten. Sie mögen von Einzelfällen reden - doch nicht einmal dann wären solche Zustände tolerierbar. Es ist kein Wunder, dass die Menschen in derartigen Situationen verzweifeln. Und sie suchen sich natürlich anderweitige Hilfe. Die Selbsthilfegruppen der "Anonymen Alkoholiker" haben jüngst erklärt, in der Corona-Krise einen starken Zulauf an neuen Teilnehmern erhalten zu haben. Viele ehrenamtliche Angebote können im Augenblick aber ebenfalls nicht als Präsenzveranstaltung stattfinden, weshalb auch ich meine Selbsthilfeberatung über Telefon und Mail ausgebaut habe. Doch gleichsam ich merke, dass ich als chronisch kranker Mensch, der seine freiwillige Aufgabe mit viel Herzblut erledigt, zwischenzeitlich an die Grenzen des Machbaren gelange. Natürlich können wir als Betroffene, die oftmals schon jahrzehntelang mit ihrer Erkrankung leben, gerade Patienten, die in dieser Epidemie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem seelischen Leiden konfrontiert sind, mit guten Ratschlägen weiterhelfen, ihnen zuhören und die gröbsten Fragen beantworten. Wir sind aber zu Recht kein Ersatz für das psychotherapeutische Versorgungswesen. Mir scheint, als wurde der Bedarf an psychologischer Hilfe für die Deutschen über Jahre schleifen gelassen. Ich kann nicht begreifen, wie Patienten in Regionen, die laut Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigung oder den Landesärztekammern als "überversorgt" gelten, trotzdem drei oder vier Monate auf einen psychiatrischen Facharzttermin warten müssen. Haben Sie den Blick auf die Wirklichkeit verloren, Frau Bundeskanzler? Nicht erst seit Beginn des grassierenden Covid-19-Virus befinden sich die Krankentage aufgrund seelischer Erkrankungen auf einem steil steigenden Ast. Und nun droht uns eine heranwachsende Generation von jungen Menschen, die möglicherweise eine Corona-Infektion überstanden hat, jetzt aber mit den langfristigen Konsequenzen von Freiheitsentzug, Bildungsarmut und Emotionslosigkeit umgehen muss - und möglicherweise Jahre in ihrer seelischen Entwicklung zurückgeworfen wird oder gar von chronischen Ängsten, Deprimiertheit und Einsamkeit geplagt ist. Ein Jugendlicher schrieb mir dieser Tage eine Nachricht und schloss sie mit dem Satz: "Sind wir die Corona-Psychos von morgen?". Ja, ich kann dieser eindeutigen Aussage nichts entgegenstellen, weil ich überzeugt bin, dass es so kommen wird. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin ganz weit entfernt von jeglicher "Querdenker"-Rhetorik, von Covid-19-Leugnern oder extremistischen Kräften, die unsere Zeit auf eine Stufe mit der schlimmsten Historie Deutschlands stellen. Aber ich möchte mahnen: Wenngleich wir schon mit der Bewältigung der unmittelbaren Folgen der Pandemie zu kämpfen haben, sollten wir dennoch daran denken, die heute noch unsichtbaren Folgen des - unzweifelhaft notwendigen - politischen Handelns möglichst bald abzufedern. Man muss gestehen: Die Defizite im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem sind nicht neu, genauso wenig, wie fehlende Krankenhausbetten oder eine weiter sinkende Zahl an Pflegekräften. Es wäre müßig, nun viel Zeit damit zu verschwenden, über die Fehler aus zurückliegenden Jahren zu philosophieren. Allerdings muss dennoch die Feststellung erlaubt sein, dass wir dem neokapitalistischen Denken im Sozialwesen über ganze Epochen kritiklos verfallen sind. Die Ökonomisierung der Gesundheit hat uns zum heutigen Zustand geführt, an dem wir unbestritten viel besser dastehen als andere Länder, aber glasklar erkennen müssen, dass der eingeschlagene Weg der Privatisierung von Versorgungsstrukturen ein Fehler war. Ich habe Ihnen in dieser Mail aufgezeigt, wie ich die Auswirkungen von Corona auf die Seele der Menschen erlebe. Ich wünsche mir von Ihnen, aber auch von den Medien - die ich deshalb in den Verteiler meines offenen Schreibens aufgenommen habe -, dass wir abseits der morgendlichen 7-Tage-Inzidenz auch auf dem Schirm haben, wie sehr Millionen von Mitbürgern unter dem momentanen Zustand leiden. Sie brauchen nicht nur heute Hilfe, sondern vor allem perspektivische Begleitung, zu der ich mit meinen bescheidenen Möglichkeiten zweifelsohne einen Beitrag leisten will. Dennoch werde ich ermahnen und zugleich ermutigen, dass die psychischen Folgen von Corona (welche viele Menschen auch als unmittelbare Konsequenz der Infektion erleben) in unserer Wahrnehmung einen viel höheren Stellenwert einnehmen müssen. Zwar leidet die Seele oft still, dafür aber nicht weniger dramatisch als manches Organ bei somatischen Erkrankungen. Neben einer massiv verbesserten Versorgungslandschaft, auch durch Einbeziehung der psychosomatische Intervention durch Hausärzte (vor allem auch auf dem Land), den Ausbau von MVZ und klinischen Außenstellen mit Anschluss von Institutsambulanzen sowie GPZ und SPZ, Stärkung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Facharztausbildung, Zugangserleichterungen zum Psychologie-Studium, einem Umdenken in der Erhebung der Bedarfsanalyse, stärkerer Vernetzung und Bekanntmachung von psychologischen Beratungsstellen oder Selbsthilfeangeboten und einer Unterstützung von Kommunalen Gesundheitskonferenzen bis hin zu Gemeindepsychiatrischen Verbünden, erkenne ich vor allem die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Sensibilisierung für das Thema der Seelischen Gesundheit und Prävention. Viele Leuchtturmprojekte zeigen, wie das funktionieren kann. Ich denke, in diesen Zeiten braucht es mehr davon. Herzliche Grüße Ihr Dennis Riehle Zurück zur Rundbrief-Übersicht |
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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26