Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Magdeburger Volksstimme, 10.9.2015

Sozialphobie: Krankhaft schüchtern

Von Elisa Sowieja

Menschen mit Sozialphobie schämen sich in Gegenwart anderer. Eine Geburtstagsparty ist für sie der Horror, zu Vorstellungsgesprächen gehen sie oft gar nicht: Menschen mit Sozialphobie.

Magdeburg. Schüchtern war Andrea Andert schon immer. Im Kindergarten frühstückte sie lieber erst dann, wenn die anderen fertig waren; so musste sie nicht mit ihnen um die Sitzordnung rangeln. Dass sie aber wegen ihrer Schüchternheit mal ihren Traumjob aufgeben würde, auf die Idee wäre damals wohl kein Erzieher gekommen. Die heute 37-Jährige leidet seit ihrer Jugend an Sozialphobie, einer Form von Angststörung. Diese Menschen empfinden massive Scham in Gegenwart anderer, wollen keinesfalls in den Mittelpunkt geraten, kurzum: Sie haben Angst vor Menschen. Der bislang größten europaweiten Studie zu psychischen Erkrankungen zufolge sind 2,3 Prozent der Bevölkerung betroffen - das sind etwas mehr als Menschen mit Platzangst.

Angst, etwas Falsches zu sagen

Für Andert begannen die Probleme mit dem Wechsel aufs Gymnasium. Sie war überfordert: zu viele neue Gesichter und ein Gelände, auf dem sie sich oft verlief. Dann fingen die Mitschüler auch noch an, sie zu mobben - äfften sie nach, weil sie leicht lispelte. Fortan schwieg das Mädchen im Unterricht. "Ich hatte solche Angst, etwas Falsches zu sagen, dass ich mich unsichtbar machen wollte", erzählt sie. Ihre Noten sackten ab. Das machte die Situation noch schlimmer: "Meine Eltern sind Lehrer und waren schon immer sehr leistungsorientiert. Ich spürte damals, wie enttäuscht sie waren." Ein Jahr vor dem Abitur brach Andert die Schule ab.
Solch ein Hintergrund ist nicht selten für Menschen mit sozialer Phobie, erklärt Dr. Stephanie Kant vom Universitätsklinikum Magdeburg. Sie betreut die Sprechstunde Psychosomatik und Psychotherapie im Medizinischen Versorgungszentrum und ist zudem Klinik-Oberärztin. "Betroffene kommen häufig aus einem Umfeld, in dem Leistung eine große Rolle spielt", sagt sie. Hinter der Störung stecke die Angst vor Bewertung - sei es in Bezug auf Leistung, Äußerlichkeiten oder Gefühle. "Diese Menschen empfinden eine tiefe Selbstunsicherheit."
Von einer Sozialphobie spricht man ihr zufolge dann, wenn jemand anfängt, zwischenmenschliche Situationen, die Ängste auslösen können, zu meiden. Bei Andert machte sich die krankhafte Schüchternheit so richtig mit Mitte 20 bemerkbar. Mit ihrem erweiterten Realschulabschluss hatte sie an einer Fachhochschule Sozialpädagogik studiert - nahezu angstfrei, denn dort hatte sie sich nicht als Außenseiterin gefühlt. Und sie hatte Freundinnen gefunden, die bis heute an ihrer Seite stehen. Doch dann im Job in einem Krankenhaus fühlte sich die Magdeburgerin nicht willkommen. "Ich spürte auch wieder den Leistungsdruck", erinnert sie sich.

Angst vor Bewertung

Als sie eines Tages vor Ärzten über ihre Arbeit berichten sollte, lief vor ihrem geistigen Auge der alte Film ab. "Es war, als stünde ich vor meiner Klasse und alle würden gleich lachen." Andert wurde schwindelig, der Vortrag fiel ins Wasser. Von da an waren Teamsitzungen ihre Horrorvorstellung.
Die junge Frau ging nur noch mit Angst im Bauch zur Arbeit, privat zog sie sich zurück. "Ich habe mich geschämt, war ständig traurig und mochte mich überhaupt nicht", erinnert sie sich. Als es immer schlimmer wurde, reichte sie die Kündigung ein. "Dabei war die Arbeit das, was ich machen wollte." Das war sie auch bei ihren nächsten zwei Stellen. Nur gab es auch dort Teamsitzungen. Die Magdeburgerin quälte sich immer eine zeitlang durch. Doch nach insgesamt sechs Jahren beschloss sie, ihren Traumberuf gegen einen Job als Kellnerin zu tauschen. Dort gab es zumindest keine Gruppenbesprechungen.
Dass es ihr besser geht, hat die Magdeburgerin zwei großen Entscheidungen zu verdanken. Erstens begab sie sich schon vor Jahren in Therapie. Die soll Patienten helfen zu verstehen, warum sie sich schämen, und ihnen verdeutlichen, dass Scham in einer Situation auch wieder abklingt. Die zweite Entscheidung kostete Andert noch eine große Schippe mehr Überwindung: Sie, die Angst vor Gruppen hat, setzte sich vor drei Jahren zum ersten Mal in ein Treffen der Magdeburger Selbsthilfegruppe für Sozialphobiker.
Die verzeichnet seit etwa zwei bis drei Jahren einen immer stärkeren Zulauf, berichtet Marcus Behrens, ehrenamtlicher Leiter, selbst schüchtern. "Im Januar mussten wir nach neun Jahren sogar eine zweite Gruppe aufmachen. Bei der ersten hatten wir mit 15 Mitgliedern die Grenze erreicht." Und der Trend hält an: In diesem Frühjahr erreichten Behrens 30 Anfragen. "Vor einigen Jahren waren es vielleicht zehn im halben Jahr." Wie dieser Trend zu erklären ist? Er mutmaßt: "Vielleicht damit, dass die Gesellschaft immer rauer wird."

Mit Straßenbahnfahrt überfordert

Mit ihren beruflichen Problemen ist Andert in der Gruppe in bester Gesellschaft. "Wegen ihrer Sozialphobie haben die meisten keinen Job", berichtet der Gruppenleiter. Viele seien dauerhaft krankgeschrieben oder erhielten Hartz IV. Denn Menschen mit dieser Störung trauten sich oft in kein Vorstellungsgespräch. "Manche schaffen es nicht einmal, mit der Straßenbahn zum Jobcenter zu fahren. Lieber nehmen sie Sperrfristen in Kauf."
Die Gruppensitzungen der Schüchternen dienen als Übungsplatz: Die Teilnehmer simulieren Vorstellungsgespräche, stellen mündliche Prüfungen nach. Selbst Smalltalk mit Fremden wird geübt. Denn der ist ein Grund, aus dem sich viele Schüchterne vor Geburtstagspartys drücken.
Andert helfen die Sitzungen nicht nur wegen der Übungen, erzählt sie: "In erster Linie fühle ich mich hier endlich verstanden." Denn das gelingt sonst selbst ihren engen Freunden nicht. "Wenn ich ihnen erzähle, dass ich mir etwas nicht traue, sagen sie immer: 'Du kannst das aber. Also mach es doch einfach!' Nur so leicht ist es leider nicht." Außerdem, erzählt die 37-Jährige weiter, nimmt sie die Fortschritte der anderen als Ansporn.
All das unterstütze sie auf dem Weg zurück in ihren Wunschjob. Schritt für Schritt wagt sie sich weiter nach vorn. Als sie in die Gruppe kam, fing sie gerade wieder für zehn Stunden pro Woche als Sozialpädagogin an. Nach und nach wurden daraus 20 Stunden. Vor zwei Wochen nun ist die 37-Jährige zur nächsten großen Etappe aufgebrochen: Sie hat ihren Bundesfreiwilligendienst in einer Kita begonnen. "Die Arbeit fühlt sich wieder richtig gut an", erzählt sie.
Trotz aller Fortschritte: Überwunden hat die Magdeburgerin ihre Sozialphobie noch nicht. Wenn sie daran denkt, dass sie bald auch mit den Eltern der Kita-Kinder Gespräche führen muss, schaudert es ihr. Doch Andert arbeitet daran. Zum Beispiel, indem sie Selbsthilfesitzungen mitmoderiert und vor der Gruppe Vorträge hält. Neulich hat sie ein Buch vorgestellt: das über die furchtlose Ronja Räubertochter.

 * Name von der Redaktion geändert

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